Dienstag, 30. November 2021
Pietro Rossi hat den Bogen raus
Er sägt für sein Leben gerne Weihnachtsbögen aus, die er stimmungsvoll beleuchtet. Dabei sucht er immer neue Herausforderungen, denn kein Motiv ist ihm zu filigran. Oft sind es Kirchen und Kapellen aus der Region, aber auch den Kölner Dom hat er in seiner Werkstatt in Otterstadt schon ausgesägt.
Pietro Rossi kann nicht einfach vor dem Fernseher sitzen und nichts tun. „Früher habe ich dabei Boote aus Holz gebastelt“, erzählt er. Das war, bevor er seine große Leidenschaft für Weihnachtsbögen entdeckt hat, die sein Leben und das seiner Familie mitunter ganz schön auf den Kopf gestellt hat, nicht nur abends vor dem Fernseher. Seitdem ist im Keller der Rossis in Otterstadt das ganze Jahr über Weihnachten. In den Regalen türmen sich Weihnachtsbögen mit den unterschiedlichsten Motiven und anderer Weihnachtsschmuck aus Holz.
Pietro Rossi stammt aus einem kleinen Dorf in der Hochebene von Asiago an den südlichen Ausläufern der Alpen. „Eine wunderschöne Gegend“, schwärmt er. Dennoch zog es ihn 1980 zusammen mit Freunden in die Pfalz, wo er in Waldsee als Eisverkäufer arbeitet. Nur für einen Sommer war das geplant, doch wieder haben die Männer noch ein Jahr drangehängt, bis Rossi schließlich seine Frau Gudrun kennenlernte und nach Otterstadt zog. In einem Kieswerk hat er Arbeit als Maschinist gefunden, gelegentlich hat er auch in der Schreinerei seines Schwagers geholfen, denn Holz ist nun mal sein Lieblings-Werkstoff.
Ganz fasziniert war er von den Weihnachtsbögen, die sein Nachbar Emil Blau anfertigte. Als dieser erkrankte, sagte Rossi spontan: „Wenn du nicht mehr kannst, dann mache ich weiter.“ Zum Ausprobieren hat er sich Blaus schwierigstes Motiv geben lassen: eine Pferdekutsche mit vielen filigranen Bäumen drumherum. „Ich dachte mir, wenn ich das kann, dann kann ich alle“. Mindestens drei Mal habe er die Arbeit in die Ecke gefeuert, doch es habe ihm keine Ruhe gelassen und schließlich hatte er buchstäblich den Bogen raus. Das war vor etwa 15 Jahren, so genau weiß Rossi es gar nicht mehr.
„So hat es angefangen und ist ausgeartet“, sagt Rossis Frau Gudrun lachend. Es gab Jahre, in denen Pietro Rossi seinen ganzen Tagesablauf nach seinem Hobby ausgerichtet hat. Er stand um halb fünf morgens auf, um vor der Arbeit schon einige Vorbereitungen zu treffen. Nach der Arbeit verschwand er noch einmal zwei Stunden in seiner Werkstatt, ging nach dem Essen kurz mit dem Hund raus, um dann noch einmal bis 22 Uhr weiterzumachen. Allerdings im Wohnzimmer, damit Frau und Tochter ihn auch einmal zu Gesicht bekamen. Selbst im Urlaub saß er am Strand und schnitzte Krippenfiguren. In der Vorweihnachtszeit standen die Rossis dann mit den Holzarbeiten auf Weihnachtsmärkten. „Die ganz wilden Zeiten sind aber vorbei“, sagt Rossi. Es sei jetzt ja schließlich schon 63. Das allerdings merkt man dem quirligen Italiener nicht an. Außerdem fielen aufgrund der Corona-Pandemie die Weihnachtsmärkte im vergangenen Jahr aus. Das Lager im Keller blieb also gefüllt. Rossi musste nicht für die nächste Saison vorarbeiten und hatte in diesem Jahr endlich mal Zeit, in Ruhe den Garten umzugestalten und mit Enkel Luca etwas zu unternehmen.
Rossis Weihnachtsbögen sind schon etwas ganz Besonderes und auch Ungewöhnliches in der Region. Die Tradition der Weihnachtsbögen kommt ursprünglich aus dem Erzgebirge und ist eng mit dem Bergbau verwoben. In dieser Region werden die Lichterbögen „Schwibbögen“ (von Schwebebögen) genannt. Es gibt einige Erklärungen, wie die Bögen zu ihrer typischen Form kamen. Für die einen stellt das Halbrund die Öffnung eines Bergbaustollens dar, inspiriert durch den „Zechenheiligabend“, zu dem sich die Bergleute am 24. Dezember nach der Andacht trafen. Sie hängten ihre brennenden Grubenlampen direkt am Stolleneingang – Mundloch genannt – auf oder im Halbkreis an die Wand. Andere sehen im Schwibbogen das Symbol eines Himmelsbogens. In der Weihnachtszeit wurden die mit Kerzen bestückten Bögen auf die Fensterbänke gestellt und brachten ein wenig Licht in das Leben der Bergleute, die im Winter ihre Häuser morgens noch in der Dunkelheit verließen, den ganzen Tag im Bergwerk verbrachten und erst nach Sonnenuntergang wieder nach Hause kamen.
Der älteste bekannt Schwibbogen stammt aus dem Jahr 1740 und ist aus Metall gefertigt. Die ersten Schwibbögen hatten überwiegend religiöse Themen als Motive oder zeigten Sonne, Mond und Sterne. Anfang des 19. Jahrhunderts kamen bergmännische Motive in Mode. Später auch Häuser oder die Kirche des Erzgebirgsdorfes Seiffen. Über die Region hinaus bekannt wurden die Lichterbögen durch eine Ausstellung im Jahr 1937 in Schwarzenberg, für die ein übergroßer Schwibbogen Werbung machte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging man dazu über, Schwibbögen aus Holz herzustellen, um so die steigende Nachfrage nach dem beliebten Weihnachtsschmuck schneller decken zu können.
Die ersten Weihnachtsbögen von Pietro Rossi hatten tatsächlich auch Bergmann-Motive. Heute zieren oft Kirchen aus der Region seine Bögen, aber auch die ein oder andere Landschaft. Sein absolutes Lieblingsmotiv ist nach wie vor der Speyerer Dom, flankiert von Altpörtel und Gedächtniskirche. Bögen mit der Kirche seines Wohnortes Otterstadt verschönern so manches Fenster in der Rheingemeinde. Auch Wünsche seiner Kunden setzt Rossi gerne um. Dann malt er das Motiv auf und schaut, ob es machbar ist. Am besten lässt sich ein Gebäude mit Ecken und Kanten umsetzen. Rossi muss genau überlegen, was er stehen lässt und was er wegsägt. „Es macht nur Sinn, wenn ich sage, es wird“, erklärt Rossi. Und wenn er sagt, es wird, dann wird es auch. Bis jetzt sei es noch nie passiert, dass eine Kirche auf dem Weihnachtsbogen nicht so aussah, wie sie sollte.
Die fertige Vorlage überträgt er dann in Originalgröße mit Kohlepapier auf Flugzeugsperrholz. Dann wird gesägt. „Wie vor 50 Jahren. Loch bohren, Sägeblatt einfädeln und sägen“, erklärt er. Allerdings nutzt er längst eine elektrische Dekupiersäge. Zweimal muss er das Motiv aussägen, denn dazwischen bringt er eine Lichterkette an. „Ich weiß schon, wie ich sie verstecken muss, damit es gut aussieht“, versichert er. Eine ganz normale Lichterkette muss es sein, kein LED, denn das Licht gefällt ihm nicht und bloß keine bunten Lichter. „Kitsch geht überhaupt nicht“, sagt er voller Überzeugung. Die fertigen, auf einen Holzfuß montierten Bögen lässt er erst mal einen Tag leuchten, um zu prüfen, ob die Lichterkette auch gut funktioniert.
Nach all den Jahren macht es Pietro Rossi immer noch Spaß, Weihnachtsbögen auszusägen. „Die Stunden, die ich dafür brauche, kann man nicht aufrechnen. Sonst wäre das unbezahlbar“, sagt er. Doch es sei schließlich sein Hobby. Auch in diesem Jahr werden für Pietro Rossi die Weihnachtsmärkte wieder ausfallen. Den Kontakt mit den Menschen, mit denen er da gerne ins Gespräch kommt, vermisst er. Umso mehr freut er sich, wenn jemand bei ihm zu Hause vorbeischaut und sich für seine Arbeiten interessiert und vielleicht sogar ein neues Motiv in Auftrag gibt. Christine Kraus