Mittwoch, 30. Oktober 2013
Vom Antisemitismus zur offenen Gewalt

In der Reichspogromnacht 1938 zerstörte Synagoge in Karlsruhe. Foto: Stadtarchiv Karlsruhe/wikipedia.de
Vor 75 Jahren, am 9. November 1938, brannten in Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fand eine bis dahin beispiellose Serie der Gewalt gegen die jüdische Minderheit im Deutschen Reich statt. Bereits seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 waren die Juden diskriminiert und schikaniert worden, 1935 büßten sie ihre staatsbürgerlichen Rechte ein. Mit den Novemberpogromen vor 75 Jahren ging die antisemitische NS-Führung von der juristischen und bürokratischen Verfolgung der Juden zur offenen Gewalt gegen die entrechtete Minderheit über.
Jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Wohnungen von Juden in ganz Deutschland wurden verwüstet und geplündert, Hunderte Synagogen gingen in Flammen auf. Zahlreiche Juden wurden öffentlich misshandelt und zu Tode geprügelt. Außerdem wurden am 10. November rund 30000 männliche Juden für einige Monate in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Nach Schätzungen von Historikern starben mehr als 1300 Menschen während und infolge der Gewalt. Die offizielle NS-Bilanz führte 91 Tote auf, der Sachschaden wurde auf mehrere hundert Millionen Reichsmark beziffert.
Die judenfeindlichen Ausschreitungen sollten aussehen wie ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“, doch sie wurden planmäßig von der NS-Führung in Gang gesetzt. Als Vorwand diente das Attentat auf den deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst vom Rath in Paris durch den 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan. Bei einem Treffen von Parteifunktionären am 9. November in München gab Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Hetzrede das Signal, gegen die jüdische Minderheit loszuschlagen.
Die reichsweiten Übergriffe gegen die Juden und ihr Eigentum wurden überwiegend von SA-, SS- und Parteimitgliedern verübt. Vielerorts beteiligten sich an den Zerstörungen und Misshandlungen aber auch Deutsche, die nicht den NS-Organisationen angehörten, darunter viele Jugendliche. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr als 7000 Deutsche in rund 1200 Prozessen für Verbrechen im Zusammenhang mit den Pogromen von 1938 vor westdeutschen Gerichten angeklagt.
Für den US-amerikanischen Historiker Alan E. Steinweis reicht der Kreis der Täter „weit über die Kerntruppe von Nazischlägern hinaus“. „Auch wenn sich wohl nur eine Minderheit der Deutschen aktiv an dem Pogrom beteiligte, war diese Minderheit doch bedeutend größer als oftmals angenommen“, resümiert Steinweis. An den Plünderungen jüdischen Eigentums nach den Übergriffen hätten sich Tausende Deutsche beteiligt.
Nach dem Urteil des Historikers Wolfgang Benz inszenierten die Nationalsozialisten die Pogrome als „Ritual der Erniedrigung und Demütigung“ der jüdischen Minderheit. Nach den gewaltsamen Übergriffen begann auch die flächendeckende staatliche Enteignung jüdischen Besitzes. Die systematische Vernichtung der Juden planten die NS-Machthaber zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst drei Jahre später, im Jahr 1941, setzten die Deportationen deutscher Juden in die Todeslager ein.
Für die Pogrome vom November 1938 bürgerte sich rasch – offenbar aufgrund der Glasscherben der zerstörten Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte – der Begriff „Reichskristallnacht“ ein. Die genaue Herkunft des zeitgenössischen Ausdrucks ist ungeklärt. Heute wird der Begriff meist als verharmlosend und beschönigend empfunden. (epd)
Gedenken in Dahn
Dahn. Anlässlich des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht findet in Dahn eine Gedenkveranstaltung statt. Pfarrer i.R. Ewald Sonntag, ehemaliger Dekan in Kaiserslautern, referiert am Samstag, 9. November, 19 Uhr, im Bürgersaal der Verbandsgemeindeverwaltung Dahner Felsenland, Schulstraße 29, unter dem Titel „Was Christen über das Judentum wissen sollten“ über die Verwurzelung des Christentums im Judentum. Im Anschluss stellt Otmar Weber sein Buch „Jüdisches Leben in der Pfalz – Ein Kultur-Reiseführer“ zu jüdischen Stätten im Wasgau, auf der Si-ckingerhöhe und in der Saarpfalz vor. Veranstalter der Gedenkveranstaltung ist der Arbeitskreis „Judentum im Wasgau“, dem auch die örtlichen Kirchen angehören.