Mittwoch, 06. November 2013
Äußere und innere Werte
Gedanken zum „Pilgern“ von Dr. Peter Hundertmark, Leiter des Exerzitienwerks im Bistum Speyer
Pilgern ist „in“. Schon vor den Büchern einiger Prominenter haben sich unzählige Menschen auf den Weg nach San- tiago gemacht. Viele Gegenden – und so auch die Pfalz – weisen alte Pilgerwege wieder aus. Hotels und kirchliche Häuser stellen sich auf die wachsende Nachfrage ein. Aber nicht nur Pilgern ist wieder modern, auch das Wandern, das einige Jahrzehnte ein eher altbackenes Image hatte, ist wieder da und zieht junge Leute an. Weder das Wandern noch das Pilgern braucht viel Begründung. Es tut einfach gut. Mal was anderes machen. Mal raus. Ich bin mal weg...
Menschen erleben, dass sie von den Belastungen ihres Alltags Abstand bekommen, wenn sie laufen. Viel Unruhe schwingt aus, wenn die Füße sich bewegen. Wer lange stramm geht und nicht nur schlendert, kommt immer wieder in einen Zustand, in dem „es mich läuft“; einen Zustand, in dem das Bewusstsein ein bisschen weniger scharf ist. Manches klärt sich auch wie von selbst, indem ich laufe. Plötzlich ist klar, was Sache ist, wie ich mich entscheiden muss. Gehen hilft klar sehen und entscheiden. Gehen hilft spüren, was passt.
Gehen hilft auch, mich selbst zu spüren. Die regelmäßigen Bewegungen machen mir den eigenen Körper bewusster gegenwärtig, als er auf dem Sofa spürbar ist. Gehen bringt auch immer wieder Neues in den Blick. Selbst wenn ich dort gehe, wo ich schon hundert Mal gegangen bin, ist doch immer etwas, was ich so noch nie gesehen habe. Gehen bringt mich aber auch zu ganz Neuem. Dinge, Landschaften, Perspektiven, die ich noch nie gesehen habe, rollen vor mir aus und langsam, behutsam ergehe ich sie, mache ich mich mit ihnen bekannt und vertraut. Menschen begegnen mir, an vielen gehe ich vorbei, manche gehen den gleichen Weg. Immer wieder entsteht eine Weggefährtenschaft und löst sich auch wieder auf.
Wenn ich einmal die Worte zusammen hole, die das Wandern und Pilgern beschreiben, wundere ich mich nicht, dass die Verbindung von Gehen und Spiritualität Hochkonjunktur hat. Erfahrungen machen, Neues entdecken, eine andere Perspektive einnehmen, behutsam und langsam sein, reden und schweigen und hören, mich spüren, meine Fähigkeiten und Grenzen wahrnehmen, mit mir ins Reine kommen, zur Ruhe kommen, Abstand finden, in eine innere Offenheit und Wachheit kommen, Weggefährten finden... alles Dinge, die uns Menschen auch auf geistlichen „Wegen“ geschehen – begegnen, sagen wir bezeichnender Weise.
Gehen bereitet die Seele. Gehen bereitet meine Seele zu mir. Bereitet Gehen meine Seele zu Gott? Und so spannend Wege ins Äußere sind, so spannend können auch Wege nach Innen sein. Wenn ich in mir umhergehe, mich erforsche, den Wegen, Perspektiven und Erfahrungen meiner Seele nachgehe, sehe ich Vertrautes neu, Neues will erst vertraut gemacht werden. Ich entdecke mich und was mich ausmacht. Ich spüre, wo ich in mir bin und was mich außer mich bringt. Ich ahne sogar, wo ich Grenzen habe und wo ich an andere angrenze – ja manchmal sogar,wo ich an den Ganz-Anderen angrenze, den wir Gott nennen.
Der Epheserbrief kennt ein ungewöhnliches Wortspiel. Er spricht davon, dass wir „im Glauben umhergehen“ sollen, ihn von innen her abschreiten, seine Landschaften und Ausblicke entdecken... Er lädt uns ein, uns ein Bild zu machen, und noch eines und noch eines, von Gottes Wegen mit uns. Schon wieder Wege.Wir sind eingeladen, Gottes Wege mit uns entdecken – auf den inneren Wegen in uns hinein.
Jesus selbst ist ständig unterwegs gewesen. Die Evangelien erzählen uns, wie er durch Galiläa wandert und dann nach Jerusalem hinauf geht. Jesus ruft die Jünger damals und uns heute auf seinen Weg – ihm nach. Die Evangelien machen uns mit dem Kreuzweg vertraut und verheißen den Jüngern, dass er nach der Auferstehung ihnen voraus nach Galiläa geht. Und so verwundert es auch nicht, dass das letzte Wort des Auferstandenen ist „Geht in alle Welt...“ Gehen scheint unserem Glauben innerlich eingeschrieben. In uns gehen und hinausgehen – die Reise nach innen antreten und Pilgerwege unter die Füße nehmen.
Im Wissen um die Chancen und Gefahren innerer Wege sind in der Kirche unzählige Hilfsmittel für die geistliche Reise entstanden. Erfahrungsberichte in den Biographien großer Beterinnen und Beter, Übungswege als „Training“ für die Seele in Exerzitien und Exerzitien im Alltag, geistliches Gespräch und geistliche Begleitung als Stärkung und Sicherung, Gebete und Gebetsanleitung, Hilfen, die Bibel, das große Wanderbuch unseres Glaubens zu lesen... Und immer mehr Menschen entdecken, dass es Freude und Sinn macht, auch den geistlichen Weg nach innen gemeinsam zu gehen. Kirchliche Bewegungen, Hauskreise, Glaubensgruppen, pfarrliche Gesprächskreise pflegen den Austausch und das Glaubensgespräch. So stärken und stützen sich die Christinnen und Christen gegenseitig.
Die Verheißung steht, dass Jesus mit uns geht. Er fragt uns, jede und jeden: „Willst Du mit mir gehen?“ „Willst du die inneren und äußeren Wege deines Lebens mit mir gemeinsam gehen?“ Es geht viel leichter, als wir denken, denn er kennt den Weg! (red)
Der Beitrag von Dr. Peter Hundertmark ist erschienen im
Pilger-Kalender 2014
Pilgerverlag GmbH Annweiler
ISBN 978-3-942133-72-2
4,80 Euro.