Donnerstag, 17. Oktober 2013
Ich bete, also bin ich
Vom Leben in der Gottes-Existenz - Gedanken zum Lukas-Evangelium 18, 1–8 von Diplom-Theologe Klaus Haarlammert
Auf den ersten Blick sieht es zwar nicht so aus, aber dieses Evangelium vom heutigen Sonntag ist höchst brisant, dramatisch und aktuell: Jesus zielt hier in die Herzmitte christlichen Lebens. Wenn auch das Gleichnis, das Jesus erzählt, hier nicht in allen seinen Entfaltungen erfasst werden kann, so lässt sich doch seine grundsätzliche Aussage festmachen. Dabei tritt das Gleichnis zuerst einmal völlig in den Hintergrund, dass von ihm gar nicht die Rede zu sein scheint. Worum es geht, sagt Jesus im ersten und letzten Satz: Es geht um das Beten und das Glauben. Und damit um Gott. Oder näher gesagt, darum, in welcher Beziehung Gott zu mir und ich zu Gott stehe.
Nichts kann sein ohne Gott, damit auch der Mensch nicht. Ich kann mich erst wirklich als Mensch verstehen, wenn ich mich von Gott her begreife. Ich lebe ganz und gar aus dem Geflecht der Beziehung von Gott zu mir – Gott machte den Anfang – und von mir zu Gott – ich antworte darauf. Dieses ganze Geflecht der Beziehung ist kein äußerliches Geschehen, sondern ein im Sein wurzelndes, existentielles und wesentliches, dauerhaftes Gespräch zwischen Gott und mir und zwischen mir und Gott: Er ist das Wort, ich bin die Antwort, immer. So wie Gott einer ist und einzigartig, so bin ich auch von Gott aus und auf Gott hin, und nur so. Dieses wunderbare Geflecht ist durch und durch Liebe. Lieben und Geliebt-Werden, weil Gott die Liebe ist.
In diesem Liebe besteht letztlich Glauben. Glauben heißt, vom Ursprung des Wortes her: in Gott von ihm her verwurzelt sein und sich von mir her in Gott verwurzeln. Ich kann nicht anders leben als aus dieser Wurzel und in diesem Grund. Aus diesem Grund komme ich ja schließlich. Und letzten Endes komme ich auch dorthin, wenn ich zugrunde gehe: Wenn ich sterbe, gehe ich zu diesem Grund zurück, aus dem ich genommen bin. Das ist die Erde, ja, aber zutiefst ist es Gott selbst. Ich kann nicht anders als an Gott glauben, ich glaube ununterbrochen, auch wenn ich manchmal meine, ich glaubte zu schwach oder gar nicht. Im kleinen Wort „Amen“ steht all dies: verwurzeln, glauben, lieben … „Amen“ ist das tiefste und alles sagende Gebet.
Kein Mensch kann nicht glauben. Glauben kann verblassen, versickern, gar ganz verschüttet werden, sodass ich nicht mehr auf Gott zugehen und mit ihm sprechen kann – aber trotzdem bleibt das Beziehungsgeflecht zwischen Gott und mir, zwischen mir und Gott. Auch wenn ein Mensch von sich sagt, er sei Atheist, und vehement Gott ablehnt, muss er doch zutiefst an Gott glauben, um ihn so verneinen zu können. Er glaubt, dass Gott nicht ist, aber er glaubt. Sein Glaubensbekenntnis heißt: „Gott sei Dank bin ich Atheist!“ Manchmal scheint mir näher an Gott heranzureichen, wie ein – vermeintlicher – Atheist glaubt als wie laue, gleichgültige Menschen glauben.
Lebendiger Glaube, gerade in diesem Beziehungsgeflecht mit Gott, ist daran zu erkennen, dass Gespräch ist: stumme Zwiesprache, aufmerksames Hinhören, lauter Jubel, flehende Bitte, ja, auch sachliche Auseinandersetzung. So vielfältig ist Beten, eines ist allem gemein: Ich lebe meinen Glauben, indem ich bete. Ich bete ja nicht nur dann, wenn ich dies vorsätzlich, ausdrücklich und bewusst tue; nicht nur, wenn ich Gott anspreche: Du, lieber Vater, Du! Beten ist leben in dieser Beziehung jenes „Du, lieber Vater, Du“. Ich stehe mit Gott auf „Du und Du“, Gott hat dieses „Du“ als erster zu mir gesagt, ich antworte darauf. Beten ist glauben, beten ist lieben, beten ist leben – leben aus Gott, in den ich bis zum Grund meine Lebens-Wurzel getrieben habe.
Wenn der Apostel Paulus so klar und mit dem Ausrufezeichen sagt: „Betet ohne Unterlass!“, kann er nur beten als leben meinen, beten als menschliche Existenz. So sagt Jesus hier seinen Jüngern, „dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollen“, und verknüpft es mit glauben. Mein Leben ist betende Existenz, weil es in Gott verwurzeltes Leben ist und diese Verwurzelung keinen Augenblick ausgesetzt werden kann, wenn auch das Wachsen und Blühen mal schwächer und mal stärker ist. Wenn ich aus Gott lebe, werde ich, wer ich bin. Ich bete, also bin ich.
Glauben und Beten, in diesem existentiellen Sinn, sind die beiden Seiten der einen Medaille unseres Lebens; deshalb „rahmt“ Jesus sein Gleichnis damit. Im Gleichnis selbst schildert er diesen gottlosen und menschenverachtenden Richter, der am Ende doch der unaufhörlich und eindringlich bittenden Witwe zu ihrem Recht verhilft. Die Folgerung: Sogar ein solcher Richter, der absolut nicht für Gott, geschweige denn für Schwache und Kleine disponiert ist, erhört die Witwe – Witwen sind damals die Schwächsten und Ärmsten, doch nur, weil sie ihm lästig wird. Wie viel mehr erhört und dann Gott, der unendlich mehr Liebe ist als wir Liebe jemals denken können – uns, die wir als Betende, Glaubende und Liebende in der Gottes-Existenz leben!