Mittwoch, 06. April 2022
Es ist Karfreitag in Europa

Er trägt das Kreuz: ein Mann während einer Demonstration in Mainz gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine. (Foto: picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow)
In diesem Jahr steht die Karwoche wegen Putins brutalem Angriffskrieg unter ganz besonderen Vorzeichen
Krieg und Zerstörung, Flucht und Vertreibung lassen uns mehr als sonst spüren, dass das Kreuz Jesu nicht goldglänzend, sondern blutbefleckt ist.
Es gibt Religionen, die haben als Symbol einen Leuchter. Oder einen Halbmond. Oder einen in sich ruhenden Buddha. Wir Christen haben das Kreuz. Ein Marterwerkzeug, ein Symbol des Todes.
Weil viele Kreuze aus Gold, reichlich geschmückt und hübsch anzusehen sind, ist uns die Dramatik nicht mehr bewusst. Bei den ersten Christen war es anders. „Ein Ärgernis und eine Torheit“ sei das Kreuz für viele, sagte Paulus. Dass es das Grundsymbol des Christentums wird, war lange nicht ausgemacht. Christus als Hirt mit dem Lamm auf den Schultern, der Fisch, die aufgehende Ostersonne – es hätte optimistischere Möglichkeiten gegeben.
Warum ist es dennoch das Kreuz geworden? Vielleicht, weil Christen Realisten sind. Weil wir nicht in der Versenkung verschwinden, auch nicht in der geistlichen. Weil wir den Blick darauf behalten, wie das Leben eben leider oft ist: grausam und gemein.
Das Leben war grausam und gemein zu Jesus. Wer den Karfreitag nicht routiniert durchfeiert, sondern versucht, den Kreuzweg Jesu bis zum bitteren Ende mitzugehen, der wird das spüren. Und wird gerade in diesem Jahr merken, dass das Kreuz keine längst vergangene Geschichte ist, sondern bittere Realität.
Alte Kreuzikonen werden mitgenommen
Auch heute gibt es grausame politische Herrscher wie Pontius Pilatus, denen Menschenleben egal sind. Auch heute gibt es verirrte religiöse Führer wie Kajaphas, die Grausamkeit mit angeblicher Rechtgläubigkeit rechtfertigen. Auch heute schickt diese unheilige Allianz von Thron und Altar Menschen mitleidslos in den Tod. Auch heute siegt die Gewalt und der Mächtige vernichtet unschuldige Opfer. Es ist Karfreitag – jetzt und hier, mitten in Europa.
Menschen in der Ukraine spüren das genau. Deshalb tragen sie das Kreuz bei Friedensdemonstrationen mit. Deshalb hängt das Kreuz in Notunterkünften. Deshalb gehören alte Kreuzikonen zu den wenigen Habseligkeiten, die mitgenommen werden auf der Flucht. Der leidende Christus ist genau dort, wo heute die Menschen leiden. Und das nicht nur, weil er mitleidet. Sondern auch, weil er Halt gibt und Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass sich wie damals Simon von Zyrene Menschen finden, die mittragen. Dass es Veronikas gibt, die den Erschöpften einen Moment der Ruhe verschaffen. Dass Menschen wie die Frauen unter dem Kreuz allein durch ihr Dasein die Schwere des Leids mindern helfen. Es ist Karfreitag in Europa – und es gibt Rollen in dieser Passion, die jeder von uns einnehmen kann.
Die wichtigste Hoffnung, die der Gekreuzigte schenken kann, ist aber die der Auferstehung: für die Gefallenen und Ermordeten. Für zerstörte Städte. Für ein brutal überfallenes Volk. Denn das ist unser Glaube: Es wird Ostern in Europa. Das Leben siegt. (Susanne Haverkamp)