Mittwoch, 20. April 2022
„Der Alte da oben mag mich irgendwie“
Offene Worte und ein sehnsüchtiger Glaube: Die Gottesfrage lässt Heinz Rudolf Kunze nicht los
Der Musiker Heinz Rudolf Kunze ist kein Vorzeige-Christ. Aber er will auch nicht glauben, dass alles Sein nicht mehr ist als „Atom und Molekül“. Und er entdeckt in Gedichten, Musik und Malerei Spuren des Göttlichen.
Im Jahr 2005 bekam Heinz Rudolf Kunze eine besondere Anfrage: Die Organisatoren des Evangelischen Kirchentags in Hannover baten ihn, das Lied zu dem Treffen zu schreiben. Der Sänger zögerte nicht lange. „Die Aufgabe hat mich gereizt. Es war nicht unbedingt ein inneres Bedürfnis, aber eine berufliche Herausforderung, die ich da gesehen habe: Wie macht man ein gutes Kirchentagslied?“, sagt Kunze. Er schrieb das Stück „Mehr als dies“, in dem er das Motto des Kirchentags aufgriff: „Wenn dein Kind dich morgen fragt …“. In dem Lied sagt er, dass man einem Kind keine Antwort schuldig bleiben solle, wenn es fragt, warum wir auf der Welt sind, wenn es mehr wissen will, wenn es anfängt, sich zu wundern.
Er war zufrieden mit dem Song. „Einigen Leuten in der Kirche war das Lied aber nicht fromm genug, weil es zu weltoffen war und nicht genug Werbung für die evangelische Kirche gemacht hat“, sagt Kunze. Gott wird nicht explizit erwähnt. „Das war mir aber ganz wichtig. Ich wollte, dass jeder Mensch, der irgendwas glaubt, dieses Lied mitsingen kann“, sagt der evangelische Christ.
Die Unbegreiflichkeit Gottes aushalten
Mit seinen deutschsprachigen Texten setzt Kunze gerne Impulse – und will manchmal auch provozieren. Er schreibt über Liebe, Glück, Freundschaft, über Flüchtlinge, die Gesellschaft und den Zeitgeist. Seinen größten Erfolg feierte Kunze 1985 mit dem Lied „Dein ist mein ganzes Herz“. Ab Ende April geht der 65-Jährige, der in Bissendorf in der Nähe von Hannover lebt, mit seinem Album „Der Wahrheit die Ehre“ auf Deutschlandtournee.
Glaube und Religion spielen in Kunzes Leben schon immer eine wichtige Rolle – auch wenn er sich selbst nicht als gläubig bezeichnen würde. „Der Glaube ist für mich ein Willensakt. Ich möchte, dass es Gott gibt“, sagt er. Nur sicher sei er sich halt nicht. „Ich habe mal einen genialen Satz von Karl Rahner gelesen: Glaube heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten“, sagt Kunze.
Das Hadern, ob es Gott wirklich gibt, gehört für ihn untrennbar zum Glauben. Und trotz seiner Unsicherheit hält er an dem Gedanken fest, dass es Gott geben könnte. „Ich hätte es gerne ordentlich im Weltall. Ich hätte gerne, dass es einen Plan gibt“, sagt er. Ihm gefällt der Gedanke nicht, dass die Erde und das All nichts weiter sind als ein Klumpen von Atomen und Molekülen ohne Plan und Sinn.
„Das kann doch kein Zufall sein!“
Manchmal entdeckt er einen Hinweis auf Gott in der Kunst. „Ich denke an das Stück ‚Cinema Show‘ von der Band ‚Genesis‘. Was Tony Banks da komponiert hat, dieses perfekte Zusammenspiel von Gitarren, Flöten und Oboen, ist zumindest ein Gottesindiz“, sagt Kunze. „Das ist einfach so gelungen, das kann doch verdammt noch mal kein Zufall sein.“ Ein Gedicht von Hölderlin, ein Lied von Beethoven, ein Bild von August Macke – in alles könne er einen Funken Göttliches interpretieren. „Und ich hoffe, dass ich Recht habe“, sagt Kunze.
Seinen Kindheitsglauben, erzählt der Sänger, habe er sich bis heute bewahrt. Dazu gehört, jeden Abend ein Gebet zu sprechen: „Damit habe ich nie aufgehört. Das ist für mich ein wichtiges Ritual.“ Für ihn gehört dazu auch, die Kirche nicht zu verlassen. Er bezeichnet sich selbst als „wohlwollende Karteileiche“ – und sagt: „Da halte ich es mit meinem Kollegen Helge Schneider: Ich werde nie austreten, denn: Man weiß ja nie.“
Aufgewachsen ist Kunze in Osnabrück. Seine Eltern, die beide als Lehrer arbeiteten, waren musikalisch: Die Mutter spielte ein wenig Klavier, sein Vater Geige. Seine Liebe zur Musik habe das aber nicht entfacht, sagt Kunze. Geprägt haben ihn vielmehr Rocklegenden wie Led Zeppelin, Jimi Hendrix und The Who. „Diese Musik hat mich elektrisiert“, sagt Kunze. „Ich wusste mit zehn oder elf Jahren, als ich zum ersten Mal die Beatles hörte: Das will ich auch.“ Trotzdem studierte er zunächst Germanistik und Philosophie, liebäugelte mit einem Theologiestudium und arbeitete gerade an einer Doktorarbeit über das Gottesbild der Philosophen Schelling und Spinoza, als die Musik für ihn immer wichtiger wurde.
„Geradezu ferngesteuert“
Als intellektueller Rock-Poet machte er sich Anfang der 1980er Jahre einen Namen, schrieb und komponierte seine Stücke selbst. In den gut 40 Jahren seiner Musikkarriere hat er rund 500 Lieder veröffentlicht und 5700 Texte geschrieben. Außerdem hat er 14 Bücher publiziert, hauptsächlich Sammlungen von lyrischen Texten. Er sagt: „Wenn mir etwas gelingt, dann fühle ich mich oft wie ein ausführendes Organ von etwas. Geradezu ferngesteuert.“
Ein ähnliches Gefühl packt ihn auch auf der Bühne. „Ich erlebe bei einem Auftritt gar nichts“, sagt Kunze. Er sei so damit beschäftigt, dass die Stücke gut gesungen und gespielt werden, dass er das Gefühl habe, gar nicht da zu sein. „Die Auftritte sind umso besser, je mehr es mir gelingt, mich komplett zu vergessen“, sagt er. „Ich werde dann ganz Ohr und ganz Mund. Ich lasse mich völlig darauf ein, diesen Leuten, die vor mir sind, möglichst gut zu vermitteln, was meine Inhalte, Lieder und Worte sind.“
Zu Beginn seiner Karriere habe ihn das Lampenfieber geplagt und er habe aufpassen müssen, auf der Bühne nicht über Kabel zu fallen. Heute ist er gelassener: „Ich kann die Show amüsierter betrachten. So als würde ich über mir schweben und mir und der Band von oben beim Arbeiten zusehen.“
Auf der Bühne wie ein Leistungssportler
Vor einem Auftritt zieht er sich zurück. Er vergleicht sich mit einer Schildkröte, die, kaum fähig sich zu bewegen, eine Stunde in der Garderobe hockt. „Ich verkrieche mich, um die Energie zu bündeln, damit sie dann kompakt da ist, wenn es losgeht“, sagt Kunze. Nach einem Konzert ist er aufgekratzt – und zugleich völlig erschöpft: „Ich bin danach fertig wie ein Leistungssportler. Da ist kein trockener Fleck mehr an meiner Kleidung, ich bin klitschnass.“
Er liebt sein treues Publikum, er ist stolz, dass er immer noch von Flensburg bis an die Alpen große Hallen füllt, er mag aber auch die kleineren Solo-Auftritte und Lesungen, die er manchmal in Kirchen hält. „Dann freue ich mich immer wieder, dass mich dort, besonders bei meinen garstigsten Bemerkungen, kein Blitz von oben trifft“, sagt Kunze. „Ich glaube, der Alte da oben, der mag mich irgendwie.“ (Kerstin Ostendorf)