Mittwoch, 04. Mai 2022
Extrem belastet

Auch sie stehen jetzt Schlange: ukrainische Flüchtlinge bei der Tafel in Wiesbaden. (Foto: imago/Rene Schulz)
Die Tafeln in Deutschland geraten in Bedrängnis – und fordern Hilfe von der Politik
Die Tafeln haben zwei Probleme: Sie müssen durch Pandemie und Krieg immer mehr Bedürftige versorgen – und bekommen weniger Lebensmittelspenden als früher.
Erstmals seit ihrem Bestehen musste die 1996 gegründete Tafel in Cottbus jüngst etliche Menschen, die nach Lebensmitteln anstanden, abweisen. Der Andrang im Stadtteil Sachsendorf war Mitte April so groß geworden, dass der örtliche Tafel-Chef schon am frühen Mittag einen Aufnahmestopp verhängte.
Dass Hilfsbedürftige nicht mehr unterstützt werden können, ist zwar bundesweit noch die Ausnahme. Dennoch mehrten sich zuletzt die Hilferufe von den Teams der rund 2000 deutschen Lebensmittelausgabestellen, die sich im Bundesverband Tafel Deutschland zusammengeschlossen haben.
„Die Lage hat sich in den vergangenen Wochen gewaltig verändert. Wir verzeichnen in unseren 46 Ausgabestellen einen Zuwachs von 30 bis 50 und zum Teil noch mehr Prozent“, sagt Sabine Werth, die Vorsitzende der Berliner Tafel. Sie hat 1993 die erste deutsche Essensausgabestelle für Bedürftige ins Leben gerufen. Und sie betont, dass sich der aktuelle Run auf die Tafeln nicht mehr auf strukturschwache Regionen beschränkt.
Vor allem Obst, Gemüse und Brot fehlen
Auch die Tafel in Bayreuth hat kürzlich einen Aufnahmestopp verhängt. In Nürnberg stieg die Zahl der Bestandskunden innerhalb von Wochen von 5500 auf 10 000 Hilfsbedürftige. Der Bielefelder Tafel-Chef Thomas Doussier hat beobachtet, dass sich die Klientel seines Dienstes schon während der Pandemie stark verändert hat. Inzwischen seien gar Teile der Mittelschicht bedürftig: „Das sind Leute, die vor drei oder vier Jahren noch gedacht haben, dass sie gut situiert sind.“ Neben Rentnern, Geflüchteten und Hartz-IV-Empfängern sind auch immer mehr Studierende und Soloselbständige zumindest zeitweise auf Lebensmittelspenden angewiesen. Grund für den Zulauf sind neben dem Krieg in der Ukraine auch die „zum Teil gigantischen Preisanstiege bei Lebensmitteln“, sagt Werth.
Allein in Berlin kommen derzeit täglich 2000 Geflüchtete aus der Ukraine an. „Viele sind schwer traumatisiert“, berichtet die Sozialpädagogin. „Auch damit müssen unsere Leute irgendwie umgehen, obwohl sie dafür überhaupt nicht geschult wurden.“ Hinzu kommen Sprachprobleme. Oft läuft die Verständigung mit den Geflüchteten nur über ÜbersetzungsApps.
„Unsere Ehrenamtlichen stoßen fast überall an ihre Belastungsgrenzen, auch weil sie in den letzten beiden Jahren durch die Corona-Pandemie schon extrem gefordert wurden“, sagte Jochen Brühl, Vorsitzender von Tafel Deutschland, in der „Heilbronner Stimme“. Die Arbeit sei körperlich anstrengend, dazu komme jetzt noch die psychische Belastung: „Es ist schrecklich, Menschen in Not nichts geben zu können, weil wir oft nicht mehr genügend Lebensmittel haben.“
Neben dem Zustrom von Hilfsbedürftigen leiden die Tafeln auch unter Spenden-Rückgängen. „Uns fehlen vor allem Obst, frisches Gemüse, Molkereiprodukte und Brot“, sagt Werth. Der Grund sei, dass viele Supermärkte und Restaurants dazu übergegangen sind, Lebensmittel, die das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht haben, abends noch schnell per Smartphone-App günstig zu verkaufen. Um den Hilfsbedürftigen nicht mit leeren Händen gegenüberzustehen, packen Tafeln jetzt oft weniger in die Hilfspakte hinein.
Ende 2021 waren laut Tafel Deutschland bundesweit 1,7 Millionen Menschen auf das Essen der freiwilligen Dienste angewiesen. Wie viele es heute sind, weiß niemand so genau. Doch wenn Krieg und Inflation so weitergehen, befürchten Experten einen Kollaps des fragilen Systems.
Um die Not zu lindern, sehen die Tafelverantwortlichen vor allem die Politik gefordert. Die Grundversorgung der Geflüchteten sei Aufgabe des Staates. Es gehe nicht an, dass Behörden die Menschen einfach zu den Tafeln schickten, sagt Brühl.
Fünf Euro für Lebensmittel reichen nicht
Wie Werth fordert er eine Anhebung von Transferleistungen wie dem Arbeitslosengeld II. Schon die Pandemie habe gezeigt, dass die Regelsätze, wonach einem Menschen täglich fünf Euro für Lebensmittel zustehen, „vorne und hinten nicht ausreichen“, sagt Werth. Von der Idee der Bundesregierung, die Mehrwertsteuer für Nahrungsmittel auf null zu senken, hält sie nicht viel: „Davon würden wieder, wie schon vom Energieentlastungspaket, auch Menschen profitieren, die sich die gestiegenen Preise noch gut leisten können.“
Brühl mahnte zudem „eine verlässliche und dauerhafte Unterstützung“ der Tafeln an: „Wir wollen nicht Teil des Sozialsystems werden, aber wir finden schon, dass wir als gemeinnützige Organisation unterstützt werden müssen. Mit kostenfreier Miete oder Freistellung von Entsorgungsgebühren, KfZ-Steuer, Energiekosten oder Ähnlichem.“ Das sei auch eine Frage des Respekts. Denn ohne die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer der Tafeln würde in Deutschland vieles nicht funktionieren. (Andreas Kaiser)