Mittwoch, 17. November 2021
Königtum der Wahrheit

Jesus Christus Allherr mit zwei Engeln und den vier Evangelisten. Miniatur aus dem Codex Amiatinus, einer Bibelhandschrift aus dem Kloster St. Paul in Jarrow bei Newcastle upon Tyne, achtes Jahrhundert. Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz. (Foto: Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz)
Jesus befreit zu einer solidarischen Existenz
„Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38) fragt Pilatus den gefangenen Jesus am Ende seines Verhörs im Prätorium von Jerusalem. Gleich wird er ihn seiner römischen Soldateska ausliefern und kreuzigen lassen. Er scheint es eher beiläufig zu sagen, als interessiere sie ihn nicht. Den Präfekten interessiert Macht, vor allem die seine. Er gehört nicht zu denen, die „aus der Wahrheit“ sind und sie hören können, wenn sie ihre Stimme erhebt.
Auf die Frage des Pilatus, ob er ein König sei, antwortet Jesus nicht eindeutig: Sowohl das griechische Original wie auch die lateinische Übersetzung, die so genannte Vulgata, können wir anders als unsere Einheitsübersetzung sprachlich fassen: „Du sagst, ich bin ein König.“ Pilatus sagt es, nicht Jesus. Ich verstehe das so: Jesus lehnt auch jetzt noch ab, als König erklärt zu werden. Es geht ihm nicht um eine solche Machtstellung, anders als Pilatus. Dann würden ja seine Leute für ihn streiten. Er spricht von einem anderen, diese Welt überschreitenden Königtum, unfassbar und doch ein die Menschen erfassendes und vorantreibendes Königtum. Denn die aus der Wahrheit sind, können seine Stimme hören – und ihr folgen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).
Und dieses Königtum der Wahrheit will, dass die Menschen frei werden: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32). Sie will uns befreien zu einem erfüllten Leben, zu einem gelingenden Menschsein. Dazu gehört die Wahrheit des eigenen Lebens, die Erkenntnis der Welt, wie sie nun mal ist, ganz nüchtern in ihrer Bruchstückhaftigkeit und Lebens vernichtenden Bosheit, ihrer Schönheit und Güte, sowie die Orientierung an einem Ziel, für das zu leben und zu kämpfen, ja auch zu sterben lohnt. Die Wahrheit, von der Johannes spricht, ist für mich Jesus, den wir den Gesalbten Gottes, den Messias, den Christus nennen. Von dem ich glaube, dass „Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen“ wollte, „um durch ihn alles zu versöhnen“ (Kol 1,19). Er ist der Zeuge Gottes, dem ich vertraue. Er ist für mich „das Alpha und das Omega“ (Offb 1,8), die Wahrheit meines Lebens, die mich begleitet, führt, bewahrt und ermutigt bis zu der letzten Tür, von der er sagt: „Wer durch mich hindurchgeht, wird gerettet werden“ (Joh 10,9).
Hier wird´s spannend, hier wird´s politisch: Papst Pius IX. hat das Christkönigsfest 1925 eingeführt. Ursprünglich als jährlicher Gedenktag gegen den „Irrtum des Laizismus“ gedacht, aber auch für eine friedliche Wiederversöhnung der durch den Weltkrieg heimgesuchten Völker und gegen den Nationalismus, wurde dieses Fest zur markanten Absage an den totalen Machtanspruch des Faschismus und zum bewussten Zeugnis gegen den Unrechtsstaat im Dritten Reich. Und heute?
Wer diesem König folgt, hat eine andere Agenda als die Mächtigen dieser Welt, seien sie Staatschefs, Wirtschaftsführer, Meinungsmacher, Multimilliardäre oder kleine „Könige“ in der Region und vor Ort. Warum verfolgen Diktatoren in unbarmherziger Härte andersdenkende und gläubige Menschen? Welche Angst treibt die Kommunistische Partei Chinas um, öffentlich sichtbare Kreuze von Wänden und Kirchtürmen abzuschlagen? Vielleicht die Erinnerung daran, welche Rolle Christen beim Fall der Sowjetunion gespielt haben? Ein Wunder der Freiheit!
Das Evangelium ist gefährlich für die Mächtigen – und für mich selbst ein Risiko. Denn es ruft mich ständig zur Erneuerung, zur Umkehr auf, damit ich Verirrungen erkenne, die Wahrheit neu verstehe und den Weg in die Freiheit wieder finde und gehe. Wie erkenne ich Wahrheit heute in der pluralistischen Gesellschaft mit ihren gewaltigen Kommunikationsmöglichkeiten? Mit ihrer Sintflut an Bildern, Wissen, Meinungen, aber auch Lügen und Verschwörungsmythen? Natürlich muss ich verantwortlich mit den Quellen der Information umgehen. Das kann man lernen. Eine gute Quelle ist die Bibel! Christen haben im „Christkönig“ und seinem „Königtum der Wahrheit“ einen wunderbaren und entscheidenden Orientierungspunkt.
Dabei kann uns das Meditieren eines Aspekts des Königtums Jesu helfen, das er vor Pilatus angedeutet und am Kreuz qualvoll erlitten hat: die Machtlosigkeit, Gewaltlosigkeit und Armut dieses Königtums. Jesus stellt alles in Frage, was ein irdischer König verkörpert: Macht und Reichtum. Jesus lebt vor, was er mit dem Satz zu seinen Jüngern und Jüngerinnen gesagt hat: „Bei euch aber soll es nicht so sein“ (Mk 10,43). Der König am Kreuz ist radikal ohnmächtig, aber selbst dort der Diener aller (Mk 10,43).
Ich überlege, wie ich das in meinem Leben umsetzen kann, wie ich in erfahrener Ohnmacht und Angst im Blick auf den König am Kreuz einen Lebensschatz sehen kann, der mich nicht in den Abgrund stürzen lässt, höchstens in den Abgrund Gottes, dessen Liebe mich ins Leben reißt – jetzt schon in diesem Leben, zu einem Leben in solidarischer Existenz im Dreiklang der Gottes-, Menschen- und Selbstliebe. Auferstehung! (Thomas Bettinger)