Donnerstag, 13. Oktober 2016
Wozu regelmäßig beten?
Jesu Gleichnis will uns sagen, dass Gebete unsere Beziehung zu Gott stärken – Gedanken zum Lukas-Evangelium 18, 1–8 von Pastoralreferent Martin Wolf
Auf den ersten Blick erscheint unser Gleichnis im Lukasevangelium ohne einen direkt erkennbaren Zusammenhang. Doch indem der Evangelist es am Ende eines Absatzes über die Endzeit eingefügt hat, gibt er bereits einen wichtigen Hinweis. Die junge Christengemeinde, an die Lukas sich mit seinem Evangelium wendet, blickt nun bereits auf mehrere Jahrzehnte zurück, die seit dem Auftreten Jesu vergangen sind. Eine gewisse Müdigkeit macht sich breit. Der einst sehnsüchtige Ruf der jungen Christen: „Maranatha“, „Komm doch, Herr“, mit der sie die Hoffnung auf die baldige Wiederkehr des Auferstandenen besingen, er ist inzwischen schal geworden. Immer weniger Christen glauben noch daran. Man richtet sich vielmehr im Hier und Jetzt ein und die sogenannte „Naherwartung“ verblasst. Was den Evangelisten jedoch besonders umtreibt: Dieses Verblassen der unmittelbaren Hoffnung darauf, dass Gott sein Reich aufrichten und der aktuellen Weltzeit ein Ende setzen wird, hat auch Auswirkungen auf das Gebet. Die Gemeinde des Lukas scheint darin nachzulassen. Überspitzt gesagt: Wozu noch regelmäßig beten, wenn es sowieso nichts nützt? Dieser um sich greifenden Haltung versucht unsere Geschichte nun etwas entgegenzusetzen, indem sie Jesus selber Sinn und Wert des Gebets beschreiben lässt.
Das Gleichnis konstruiert zunächst einen Gegensatz. Der Richter in dieser Geschichte ist ja nicht einfach ungerecht, wie Jesus selber sagt. Er ist darüber hinaus auch faul und, was noch schlimmer ist, in seinem Handeln moralisch zutiefst fragwürdig. Der Klägerin zu ihrem Recht zu verhelfen ist ihm nämlich kein innerer Antrieb. Tätig wird dieser Richter erst aus der Furcht vor persönlichen Konsequenzen: „Sonst kommt sie noch und schlägt mich“! Nach den Kriterien des amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg, der sechs Stufen der moralischen Entwicklung des Menschen beschrieben hat, bewegt sich dieser Mann damit auf der untersten Stufe. Indiskutabel für einen Richter. Dieser Karikatur eines Richters wird nun Gott gegenüber gestellt, dem es ein inneres Bedürfnis ist, für die Seinen zu sorgen. Der nicht zögert, sondern jedem, der aufrichtig zu ihm ruft, zu seinem Recht verhilft. Oder, auf einen kurzen Nenner gebracht: Beten ist zutiefst sinnvoll und es hilft, weil Gott jedes Gebet erhört.
Die möglicherweise kritische Frage des heutigen Lesers jedoch, ob diese Gleichniserzählung das Anliegen des Evangelisten tatsächlich unterstützen kann, sie bleibt. Die Frage, ob nicht womöglich schon die frühen Christen die konkreten Alltagserfahrungen gegen die wohlgesetzten Worte des Evangeliums gestellt haben. Die Erfahrung von Verlust und Leid, allen Flehens und Betens zum Trotz. Die Erfahrung von Unterdrückung und Erniedrigung, obwohl man doch Gott immer wieder um Hilfe in der Not gebeten hat. Die Erfahrung, dass die so fest versprochene Wiederkehr des Herrn noch immer auf sich warten lässt.
„Wo ist Gott?“, so fragt sich viele Jahrhunderte später der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel in seinem Roman „Nacht“, als er die grausame Hinrichtung eines Kindes in Auschwitz schildert. Wo ist Gott, so möchte man heute fragen, in der Hölle von Aleppo? Wo ist er in den Trümmern von Haiti, den überfüllten Flüchtlingslagern in Kenia oder im Libanon? Die Frage, die dem Gleichnis in unserem Evangelientext zu Grund liegt, sie ist bis heute aktuell: Wozu regelmäßig beten, wenn es sowieso nichts nützt? Schließlich existiert sie ja, die leidvolle Erfahrung der Gottesferne, der „Nacht“. Sie ist die entscheidende Herausforderung für den Glauben. Dass dies offenbar schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert so war, bezeugt der Evangelist selber, wenn er sich – und uns - fragt: „Wird der Menschensohn, wenn er kommt, noch Glauben vorfinden?“
Auf die Frage „Wo ist Gott?“ lässt der Jude Elie Wiesel in seinem Roman eine Stimme antworten: „Da ist er. Er hängt am Galgen.“ An diese Antwort kann der christliche Glaube nahtlos anknüpfen. Gott, nicht nur gedacht als erhabener Problemlöser, der über den Niederungen des Menschenlebens schwebt, sondern auch als in diese Abgründe hinabgestiegener Menschensohn. Wer Beten versteht als einen simplen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, als eine Abfolge von Leistung und Gegenleistung, der wird es irgendwann einstellen. Wer es jedoch als eine Beziehungsaufnahme zu Gott begreifen lernt, der kann nicht mehr davon lassen. Zu einem Gott, der eben nicht der große Wunscherfüller ist, der aber verlässlich da sein will. Selbst in tiefster Finsternis und der Erfahrung größter Gottesferne. Wir können heute zu Gott beten, weil auch Menschen in Auschwitz zu Gott gebetet haben, sagte einer meiner theologischen Lehrer einmal. Weil Menschen zu allen Zeiten, auch im Angesicht der Hölle auf Erden, nicht von diesem Gott lassen konnten und wollten. Wenn wir als Glaubende dieses Vertrauen aufbringen können, dann wird sich in der Tat auch in Zukunft noch Glauben finden.