Mittwoch, 21. November 2012
Unser „Existential“: die Wahrheit
Pilatus stellt uns die entscheidende Frage – Gedanken zum Johannes-Evangelium 18,33b–37 von Diplom-Theologe Klaus Haarlammert
Nein, mit Königen, wie wir sie aus der Geschichte kennen und in unserer Gegenwart da und dort noch erleben, hat Jesus wahrhaft nichts gemein. Wenn Jesus von seinem „Königtum“ spricht oder vom Reich, von der Herrschaft Gottes, dann ist dies etwas völlig anderes, als diese Begriffe sagen. „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Johannes-Evangelium 18,36); deshalb kann auch nichts Weltliches dieses Königtum begreifen; gerade Pilatus nicht, der ja keine andere Herrschaft kennt als die des Kaisers in Rom, dessen Vasall er ist im eroberten, unterdrückten Palästina. Seine eigene, kleine Herrschaft am Rand des mächtigen Reiches beruht auf der Gunst des Kaisers, die er sich wohl mit denselben Mitteln erworben hat, die auch die Macht des Kaisers halten; im Großen und Ganzen herrschte ein Gespinst von Macht, Unterwürfigkeit, Intrigen, Lügen. Dann bist du „kein Freund des Kaisers“, so „packten“ letztlich die Hohenpriester den Pilatus.
Ja, „ich bin ein König“, sagt Jesus im Zwiegespräch mit Pilatus. „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Johannes-Evangelium 18,37). Das ist Jesu Königtum: für die Wahrheit Zeugnis ablegen! Im heutigen Evangelium fällt leider die Frage des Pilatus weg, die zum gefügelten Wort geworden ist: „Was ist Wahrheit?“ (Johannes-Evangelium 18,38); die „Pilatus-Frage“ hat sich eingeprägt. Kommt sie aus dem Mund eines Zynikers, der um die Abgründe von Herrschaft und Macht weiß und sie für sich ausnutzt? Oder ist es die Frage eines Resignierten, der es schon lange aufgegeben hat, sich den Spielchen der Mächtigen zu widersetzen, und einfach mitspielt? Oder entspringt die Frage einem verborgenen Winkel in seinem Herzen, das sich insgeheim sehnt nach einem wahrhaftigen Leben ohne diese Fallen, Intrigen und Falschheiten?
Träfe letzteres zu, würde Pilatus – so provokant dies klingt – die Existenzfrage an uns Christen stellen? Wenn Jesus Christus dazu in die Welt gekommen ist, dass er von der Wahrheit Zeugnis ablegt, dann besteht genau darin auch unser Christ(us)sein: von der Wahrheit Zeugnis abzulegen. Was aber – die „Pilatus-Frage“ steht noch – ist Wahrheit, die Wahrheit, die unseren Glauben ausmacht? Jesus Christus selbst gibt die Antwort und stellt sie in den großen Zusammenhang: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen … “ (Johannes-Evangelium 14,6–7,9). Dazu ist Jesus Christus geboren worden, in die Welt gekommen. Es geht um Gott, wie er ist und wie er da ist. Mitte unseres Glaubens ist die Wahrheit, dass Gott Mensch geworden ist, nicht irgendwie unbestimmt und vage, sondern im wahren Sinn des Wortes fassbar, erfassbar: Fleisch. Von daher ist auch der Satz falsch, glauben sei nicht wissen; im Gegenteil: glauben ist wissen, gehört nicht allein ins Fühlen, sondern mitten ins Denken, mitten in die Vernunft.
Dies leugneten und leugnen vehement ja die, die den Glauben an Gott – und letztlich Gott selbst – aus der Welt verbannen wollen ans Kaminfeuer des rein Privaten, nur weg aus der Welt, aus Gesellschaft und Öffentlichkeit: Gott ist nicht (mehr) notwendig, nicht alltagstauglich, nicht gesellschaftsrelevant, nicht wertesetzend, nicht haltungsprägend. Zwangsläufig wird damit der Glaube an Gott und das Bekenntnis zu Gott aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt und damit langsam aber sicher nicht mehr erfahrbar, sein Verschwinden droht und wird noch nicht einmal als Verlust bemerkt. Wer dies betreibt oder betreiben lässt, macht Glauben zur Sache des bloßen Gefühls, des rein privaten Geschmacks. Lassen wir Christen dies mit uns machen, verderben wir unseren Glauben und stellen gar nicht mehr erst die Frage nach der Wahrheit. Wir machen uns selbst überflüssig und verweigern der Welt das Wesentliche.
Ist dies nicht die „Krise“, in der wir stecken – ob wir sie nun Kirchenkrise, Glaubenskrise oder Gotteskrise nennen? Ist es im Grunde nicht die nicht (mehr) gegebene Antwort auf die heute drängender denn je gestellte „Pilatus-Frage“ nach der Wahrheit? Der Theologe Joseph Ratzinger hat in seinem Buch „Einführung in das Christentum“ das Märchen vom Hans im Glück herangezogen: wie der sein Gold, um es bequemer zu haben, der Reihe nach eintauschte für ein Pferd, für eine Kuh, für eine Gans, für einen Schleifstein, den er endlich ins Wasser warf; und er meinte noch dazu, alles richtig gemacht zu haben.
Unser Gold ist die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit, die wir geben müssen aus vollem Herzen und mit der ganzen Kraft unseres Denkens: Jesus Christus, der Mensch, Fleisch gewordene Gott. So total hat sich Gott in die Welt eingelassen; diese Wahrheit ist der „innerste Glutkern“ unseres Glaubens, den mit Herz und Verstand zu bezeugen wir uns und der Welt schuldig sind.