Donnerstag, 20. Juni 2013
Der Reformer auf dem Stuhl Petri
Auch bei schwierigen Themen besticht Papst Franziskus durch Offenheit und Direktheit.
Wer meint, in unserer sensationslüsternen und nachrichtenübersättigten Welt könnte irgendetwas geheim bleiben, der ist naiv. Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht verwundern, dass angebliche Äußerungen von Papst Franziskus jüngst auf einer chilenischen Internetseite veröffentlicht worden sind. Keine Frage: Was das neue Kirchenoberhaupt da laut einem Gedächtnisprotokoll bei einem Treffen mit lateinamerikanischen Ordensleuten gesagt haben soll, enthält Sprengstoff, denn danach bestätigt Franziskus, dass es Korruption und eine Schwulen-Lobby im Vatikan gibt.
Konservative erregen sich jetzt über die Offenheit des Papstes, liberal-kirchenkritische Kreise werfen ihm „ein gebrochenes Verhältnis zur Homosexualität“ vor. Was spätestens seit der „Vatileaks-Affäre“ und dem Rücktritt Benedikts fest steht, ist, dass sich in der vatikanischen Kurie beim Kampf um Macht und Einfluss vieles verselbständigt hat. Wie weit die Ränkespiele gehen und ob es im engeren Sinne strategisch organisierte homosexuelle Seilschaften gibt, lässt sich von außen nicht beurteilen. Auf jeden Fall muss und will Franziskus die Kurie reformieren, manch klerikalen Zopf abschneiden und scheinbar fest zementierte Strukturen und Seilschaften zerschlagen. Allerdings, und das hat der Seelsorger auf dem Stuhl Petri auch schon zugegeben, ist er selbst zu „unorganisiert“, um solch eine Reform ins Werk zu setzen. Das überlässt er dem aus acht Kardinälen bestehenden neuen Leitungsgremium, zu dem auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx gehört.
Wenn etwas den neuen Papst auszeichnet, dann sind es seine Offenheit, Spontaneität und Direktheit. Kaum jemals zuvor hat ein Papst so freimütig seine eigenen Schwächen und Grenzen zugegeben. Was für viele Gläubige (und Nicht-Gläubige) seinen Charme und seine Glaubwürdigkeit ausmacht, lässt ihn aber zugleich auch angreifbar werden. Immer mehr wird Franziskus, der jetzt 100 Tage im Amt ist, merken, dass jede seiner Äußerungen auf die Goldwaage gelegt wird. Doch die Welt sollte dem „Mann vom anderen Ende der Erde“ die Chance geben, bei seinem Stil bleiben und seine schwierige Aufgabe mit Ruhe, Sorgfalt und Gründlichkeit angehen zu können. Übertriebene Erwartungen – etwa aus deutscher Sicht – sind da genauso fehl am Platz wie ungeduldige, vorschnelle Kritik. (Gerd Felder)