Redaktion der pilger

Dienstag, 15. Juli 2025

Vier Jahre danach im Ahrtal

Diese Eisenbahnbrücke im Ahrtal wurde am 15. Juli 2021 durch die Wassermassen zerstört. (Foto: AdobeStock/Heinz)

Wenn aus Wunden Narben werden meldet sich irgendwann die Seele

Eine Nacht hat alles verändert. Auch vier Jahre nach der Ahrtal-Flut kämpfen Menschen um ihre Existenz. Der Wiederaufbau schreitet voran. Doch die Folgen der Katastrophe sind bis heute überall zu sehen und zu spüren.

Jeder im Ahrtal weiß noch genau, wo er in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 war. 200 Liter Regen pro Quadratmeter ließen die beschauliche Ahr in Rheinland-Pfalz in wenigen Stunden auf das Zehnfache ihres üblichen Pegels anschwellen. 135 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 17.000 ihre Häuser, Geschäfte und Existenzen.

Einer von ihnen ist Wolfgang Ewerts, Inhaber des gleichnamigen Landhotels im 400-Seelen-Dorf Insul. Fünf Jahre zuvor hatte er das Hotel gemeinsam mit Sohn Lucas saniert. Die Flut riss alles mit sich. "Niemand hätte gedacht, dass es so schlimm wird", sagt Ewerts. Als das Wasser kam, waren er und seine Frau im Urlaub. Lucas, der im Hotel arbeitete, rief ihn um Hilfe, als sich die Situation zuspitzte. "Wir brauchten Stunden, um durch das Tal zu kommen. Um vier Uhr morgens standen wir schließlich auf der anderen Seite der Ahr - und blickten auf unser Hotel, das inmitten eines reißenden Stroms stand."

"Lebenswerk im Schlamm"
Lucas hatte sich mit den Gästen in die erste Etage retten können. "Ich war erleichtert, dass alle überlebt hatten - und zugleich verzweifelt, als ich sah, wie unser Lebenswerk im Schlamm lag."

Auch Christian Lindner, Hotelier in Bad Neuenahr, erinnert sich mit Schrecken an jene Nacht. Wenige Stunden, nachdem Insul überflutet wurde, bahnte sich das Wasser seinen Weg durch Weinorte wie Mayschoß und Dernau, bis es schließlich das Ballungszentrum Bad Neuenahr-Ahrweiler erreichte - und auch hier Zerstörung hinterließ. "Es war wie in einem schlechten Film. Wir retteten uns mit einigen Gästen auf die Entlüftungsplattform einer Tiefgarage. Das Wasser stand um uns herum", berichtet Lindner, der die Villa Aurora mit seiner Frau in dritter Generation führt.

Was beide Hoteliers umtreibt: Die Frühwarnsysteme funktionierten kaum. "Niemand wusste, wie hoch das Wasser steigen würde. Dass auch flussabwärts nach der Katastrophe hier so viele nicht gewarnt wurden, ist eine Tragödie", sagt Wolfgang Ewerts. Auf eine offizielle Erklärung wartet er bis heute.

Neid unter den Betroffenen
Nachdem der erste Schock verdaut war, standen viele Hoteliers vor einer existenziellen Entscheidung: aufgeben oder neu anfangen? Bei Ewerts war es sein Sohn, der ihn zum Wiederaufbau motivierte. Er möchte den Familienbetrieb übernehmen. Lindner, dessen Kinder noch jung sind, ließ sich von der langen Familientradition leiten. Beide wagten den Neuanfang - mit Hilfe von Versicherungen, Fluthilfe und eigenen Krediten. Doch der Weg war steinig: Baumaterial und Handwerker waren in den folgenden Monaten knapp. Zudem kam Neid unter Betroffenen auf, da die Hilfsgelder nicht alle gleichzeitig erreichten.

Ewerts konnte den Hotelbetrieb nach gut zwei Jahren wieder voll aufnehmen, Lindner Ende Mai 2025. "Noch heute fragen Gäste fast täglich, was damals passiert ist. Ich erzähle gern - doch es gibt auch viele, die nicht mehr darüber sprechen können", sagt Lindner.

Nach und nach kehren die Touristen zurück. Einige, die in der Flutnacht selbst vor Ort waren, besuchen bewusst wieder "ihr" Hotel - als Zeichen der Solidarität.

Wiederaufbau noch nicht abgeschlossen
Laut Ahrtal-Tourismus sind inzwischen rund 85 Prozent der betroffenen Betriebe wiederhergestellt. Vor Flut und Corona-Pandemie, 2019, gab es rund 8.400 Gästebetten, heute sind es etwa 6.200 - Tendenz steigend. Doch Lindner, auch Vorsitzender des Vereins Ahrtal-Tourismus, weiß: "Der Wiederaufbau ist längst nicht abgeschlossen. Touristen brauchen mehr als ein schönes Zimmer - sie brauchen eine funktionierende Infrastruktur und Attraktionen, so dass sie sich wohlfühlen."

An Baustellen kommt im Tal bis heute niemand vorbei. Auf dem Weg von Insul nach Bad Neuenahr finden sich zwar überall Häuser, die wiederaufgebaut sind oder renoviert werden, aber ebenso thronen dort baufällige, leerstehende Gebäude wie Mahnmale am Straßenrand. Behelfsbrücken und -straßen leiten den Verkehr auch vier Jahre nach der Flut über und entlang der Ahr; Bagger, abgesperrte Bereiche und Baulärm gehören zum Alltag.

Worauf viele Menschen warten, ist die Fertigstellung der Ahrtalbahn, die einst Remagen und Ahrbrück verband. Ende 2025 könnte sie wieder fahren, sagt Dania Münch, Referentin für Gesundheitswirtschaft bei der Ahrtal Marketing GmbH. Auch der Ahrtalradweg und zahlreiche Wanderstrecken sollen erneuert werden.

Attraktives Ziel für Touristen
Unterstützt wird der Tourismus vom Land Rheinland-Pfalz. Bereits 2022 stellte das Wirtschaftsministerium ein erstes Förderpaket über rund eine Million Euro bereit - weitere folgten. Wirtschaftsministerin Daniela Schmitt (FDP) erklärt: "An der Ahr geht es neben dem Wiederaufbau im engeren Sinne auch darum, die Region wieder als eine der attraktivsten Tourismusdestinationen in Rheinland-Pfalz zu präsentieren. Selbstverständlich ist noch viel zu tun, aber die Entwicklung läuft in Richtung gute Zukunft, in ein modernes, schönes und resilienteres Ahrtal."

Auch Hotelier Lindner wird nicht müde zu betonen, dass das Ahrtal auf dem Weg ist, zu einer der modernsten deutschen Touristenregionen zu werden. Kritikern, die bemängeln, man habe mehr Aufmerksamkeit als andere von Katastrophen heimgesuchte Regionen erhalten, entgegnet er: "Wir haben so viele Todesopfer zu beklagen und Verwüstung aufzuräumen, Menschen sind traumatisiert. Jetzt versuchen wir, das Beste aus der Katastrophe zu machen und die Chancen zu nutzen, die wir haben."

Dies geschieht auch im Kurpark Bad Neuenahr, wo bis 2026 für 60 Millionen Euro eine neue Heilwasser-Erlebniswelt mit Veranstaltungsräumen, Museum und Bibliothek entsteht. Acht überflutete Kliniken werden wieder aufgebaut. "Das ist wichtig - für Patienten, Besucher und die Bevölkerung", betont Dania Münch. Sie selbst arbeitet noch immer in einem Container.

Fehlende Elementarversicherung
Weinhändler Volker Danko hingegen ist wieder an seinem ursprünglichen Arbeitsplatz anzutreffen. 20.000 Flaschen Wein und die gesamte Ladeneinrichtung verlor er in der Flut. Mit dem Verkauf von "Flutwein" und Beständen aus dem Lager hielt er sich über Wasser. Die Versicherung zahlte nur einen Bruchteil, weil eine umfassende Elementarversicherung fehlte. Dennoch baute er neu auf - aus eigener Tasche. Heute führt er seinen Laden mit sieben Mitarbeitenden, bietet Wein und Confiserie an.

Doch nicht allen erging es so. "Viele Kollegen mussten aufgeben - wirtschaftlich und gesundheitlich", sagt Danko, der auch Vorsitzender der örtlichen Gewerbegemeinschaft ist. Die Erschöpfung holte viele erst später ein. "Zuerst funktioniert man einfach. Man hilft, räumt, baut. Doch irgendwann meldet sich die Seele", sagt er.

Pfarrer Jörg Meyrer kennt die seelischen Wunden der Flutopfer gut. In Bad Neuenahr/Ahrweiler betreut er 12.500 Katholikinnen und Katholiken. Von den 14 Kirchen seiner Gemeinde wurden fünf zerstört, nicht alle werden wiederaufgebaut. Meyrer: "Es gibt kein Gespräch, bei dem man nicht früher oder später auf die Flut zu sprechen kommt. Die Flut hat alle Menschen im Tal geprägt."

Der Glaube hat sich verändert
Auch er selbst und sein Glaube hätten sich verändert. So spricht er heute weniger sicher von Gott. "Die Verletzlichkeit unseres Glaubens, unseres Gottes - und auch von uns selbst - ist mir sehr viel deutlicher geworden." Den Gedanken, die Pfarrei eines Tages zu verlassen, habe er seit der Flut nicht mehr. "Ich habe das Gefühl, dass ich nach wie vor genau hier gebraucht werde."

Heute engagiert er sich in der Pfarrei in zahlreichen Projekten - zum Beispiel bei einem E-Learning-Kurs für traumatisierte Menschen mit der Dr.-von-Ehrenwallsche-Klinik. Hierfür hat er Erklärvideos mit Denkanregungen produziert. "Die Menschen sollen besser verstehen, was mit ihnen passiert - und wie sie sich selbst helfen können."

Noch sind die Wunden des Ahrtals nicht verheilt - aber sie wandeln sich langsam in Narben. Und überall ist ein Geist des Aufbruchs zu spüren. Er überlagert die Angst vor der Wiederkehr eines Ereignisses wie damals, im Juli 2021. Das wiedereröffnete Hotel, der frisch renovierte Laden oder die restaurierte Pfarrkirche, in der bald wieder Messe gefeiert werden kann - jeder im Tal fiebert eigenen Meilensteinen im Kampf nach der Flut entgegen. (Julia Rosner, KNA)

 

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