Mittwoch, 27. Oktober 2021
Einfach und konkret

Es sind die kleinen Dinge im Alltag, die Freundlichkeit, Hilfe und Liebe vermitteln und so zeigen: Wir sind miteinander im Leben unterwegs. (Foto: Andrey Popov/AdobeStock.com)
Liebe leben in alltäglichen Begegnungen
„Was ist (dir) das Wichtigste im Leben? Worauf kommt es an?“ So würde der Schriftgelehrte aus dem Markusevangelium vielleicht heute fragen. Welches ist das erste Gebot – diese Frage konnte nicht nur Jesus, sondern jeder Mensch jüdischen Glaubens damals wie heute beantworten, ohne lang zu überlegen. Das „Schma Jisrael“ oder „Höre, Israel“, das am heutigen Sonntag unsere Schriftlesungen bestimmt, gehört zum Kern des Judentums und wird in der nichtjüdischen Literatur oft als jüdisches „Glaubensbekenntnis“ bezeichnet. Es wird am Morgen und am Abend gebetet, es ist Grundlage, Mitte und Orientierungspunkt jüdischen Lebens und Glaubens.
Die Antwort, die Jesus dem Schriftgelehrten gibt, ist also für Menschen seiner Zeit nichts wirklich Neues. Aber er verknüpft in seinen Worten die Liebe zu Gott und zu den Nächsten und macht deutlich, dass die eine nicht getrennt von der anderen gedacht und gelebt werden kann. In dieser Verbindung sind die beiden Hauptgebote zum Kern der Botschaft Jesu geworden. Das Doppelgebot (oder eher: Dreifachgebot) der Liebe verstehen wir heute quasi als Abkürzung für das ganze Neue Testament.
So würde unsere Antwort wahrscheinlich nicht aussehen, wenn uns jemand nach dem Wichtigsten im Leben fragt. Wir würden Familie, Gesundheit, Sicherheit nennen – vielleicht auch den Glauben oder einen Sinn im Leben. Aber diese Liebe zu Gott, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst wäre eher nicht unser erster Gedanke. Vielleicht ist es der Begriff „Liebe“, der uns davon abhält, sie als das Wesentliche im Leben zu begreifen. Liebe ist etwas so Großes, dass wir nicht in allen Beziehungen davon sprechen können oder wollen. Lieben kann ich doch nur ganz wenige Menschen. Die anderen respektiere ich oder schätze sie oder mag sie. Auch Gott gegenüber empfinde ich Dankbarkeit oder Ehrfurcht, aber „Liebe“? Und beim „wie dich selbst“ ist es noch schwerer, von Liebe zu reden. Wir sind bemüht, mit uns selber auszukommen. Wir lernen, uns mit allen Stärken und Schwächen anzunehmen Wir versuchen, ein gutes Leben zu führen, so wie es eben in unseren Möglichkeiten steht. Aber uns selber zu „lieben“ – das wäre doch ein bisschen übertrieben – und auch egoistisch. Nicht im Sinne einer christlichen Lebenseinstellung, um die wir uns grundsätzlich bemühen.
Aber da haben wir nun mal diese Antwort Jesu: kurz und bündig, ein Motto für jüdischen und christlichen Glauben. „Gott sollst du lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Was gibt diese Botschaft uns heute mit auf den Weg? Der Philosoph Josef Pieper definiert Liebe so: „Etwas bereits Verwirklichtes bestätigen und bejahen, eben das heißt Lieben.“ Wenn wir Liebe so verstehen, dann geht es darum, erst einmal Ja zu sagen zu einem anderen Menschen und seinem/ihrem Anderssein. Einen Menschen bejahen, das ist bereits ein Akt der Liebe. Kein Verliebtsein mit Schmetterlingen im Bauch und auch nicht mit dem Gefühl, das Leben für immer mit diesem Menschen teilen zu wollen, aber jemand bestätigen, bejahen, annehmen, genau so, wie er oder sie ist, das ist ein Ausdruck von Liebe.
Bei Meister Eckhart klingt es ein wenig anders: „Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige; immer ist der wichtigste Mensch, der dir gerade gegenübersteht; immer ist die wichtigste Tat die Liebe.“ Es lohnt sich, diesem Gedanken einmal nachzugehen: die Gegenwart und der Mensch, der oder die mir gegenübersteht, gehören zusammen. Wer immer in diesem gegenwärtigen Augenblick gerade bei mir ist, ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Das klingt merkwürdig, weil wir spontan unsere Eltern, Partner*in, Kinder oder Freund*innen als unsere wichtigsten Menschen ansehen würden, aber tatsächlich können wir ihnen, wenn wir nicht gerade zusammen sind, kein Zeichen unserer Liebe schenken. Der Nachbarin am Gartentürchen schon, der wir vielleicht helfen können, das Fallobst aufzusammeln. Dem Busfahrer, der heute noch kein gutes Wort gehört hat, indem wir ihn einfach freundlich grüßen. Der Kollegin, die wegen der Diagnose ihres Mannes in Sorge ist, wenn wir einmal nach ihm fragen und zuhören und mit ihr aushalten, dass nichts zu tun ist, außer zu hoffen.
Die Frohe Botschaft Jesu will nicht in die Theorie eines guten Lebens führen. Sie lädt uns vielmehr ein, konkret und praktisch und auf ganz einfache Weise unseren Augenblick zu gestalten. Diesem Menschen mir gegenüber zu zeigen, dass er oder sie angenommen ist, weil ich ihn annehme, weil ich ihr mein Ja sage, sie ernst nehme, ihr zuhöre und in diesem einen Moment mit anpacke, weil das das Einzige ist, was ich gestalten und verändern kann: mein Jetzt. Das im Bewusstsein zu tun, dass Gott da ist und sein Ja zu mir täglich bestätigt – könnte es leichter machen, dass auch ich Ja sagen kann zu mir und den Menschen, die mir begegnen, könnte Gottes Reich erfahrbar machen in meinem Leben und in unserem Miteinander im Hier und Jetzt. (Annette Schulze)