Mittwoch, 29. Dezember 2021
Von guten Mächten wunderbar geborgen
Ein Gedicht und seine Geschichte – unsere Autorin Susanne Laun, Referentin in der Stabsstelle Ökumene und theologische Grundsatzfragen im Bistum Speyer, erzählt von den vielfältigen Spuren, die die Zeilen Dietrich Bonhoeffers hinterlassen haben.
„Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister.“ So leitet der evangelische Theologe sein Gedicht ein, das wir vor allem als Lied und mit dem sieben Vers als Refrain kennen. Es ist der Schluss des letzten Briefes an seine Verlobte Maria von Wedemeyer, geschrieben am 19. Dezember 1944 im gefürchteten und von anderen Mitgefangenen als „Hölle“ bezeichneten Kellergeschoß des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin.
„Von guten Mächten ...“ – wie oft sind diese Worte auch 2021 wieder gesungen worden – in den Silvestergottesdiensten unterschiedlicher Kirchen und Konfessionen, bei Beerdigungen und vielen Anlässen, bei denen die Botschaft des Gedichtes Trost und Zuversicht vermittelt hat. Auch viele, die dem christlichen Glauben eher fern stehen, fühlen sich durch die Zeilen angesprochen. Nach einer Umfrage der Evangelischen Kirche wurde das Lied 2021 zum beliebtesten Kirchenlied erklärt. Und auch katholisch gehört es neben „Großer Gott, wir loben Dich“ zu den am liebsten gesungenen Liedern und wurde in das neue „Gotteslob“ von 2013 aufgenommen.
Wie konnte in einem – heute nur noch in Resten vorhandenen – Gebäude, das heute zur „Topografie des Terrors“ in Berlin gehört, ein Gedicht entstehen, das bis in unsere Gegenwart hinein Menschen anspricht und berührt? Der Text spricht am Anfang und Ende – gleichsam als Umrahmung – zunächst von guten Mächten. Vielleicht ist er dadurch so anschlussfähig an die Erfahrungen und Gefühle vieler Menschen: Kein abstrakter Gott, sondern seine Umschreibung in den Bildern von Trost und Geborgenheit, die aber die Abgründe des Lebens nicht ausschließen: quälende Erinnerungen, schwere Lasten, Dunkelheit. Die Assoziationen von Stille und Ruhe, von Wärme und Kerzenschein stehen so in großem Kontrast zu der von Bonhoeffer selbst erfahrenen Wirklichkeit und ihren Bedrohungen. Seine Briefe und Gedichte aus der Haft zeigen, wie sehr er selbst immer wieder um tröstende Zuversicht und Gottvertrauen gerungen hat.
Beim Verfassen der Zeilen hatte Dietrich Bonhoeffer seine Verlobte, aber auch seine ganze Familie im Blick, mit denen er sich in der Haft in besonderer Weise verbunden fühlte. Das von ihm verwendete Strophenmuster führte trotz des sehr privaten Stils des Gedichtes dazu, dass viele Komponisten Vertonungen schufen. Die erste in einem Gesangbuch 1959 in Ostberlin veröffentliche musikalische Fassung der letzten Strophe stammte von dem Ostberliner Kantor Otto Abel und hatte gerade für die jungen Gemeinden in der DDR für ihre eigene kirchliche Situation ein besonderes geistliches Gewicht. Bis heute ist sie – jetzt mit allen Versen der Textvorlage – unter den Liedern zum Jahreswechsel in den Evangelischen Gesangbüchern zu finden. Eine andere Melodie stammt von Siegfried Fietz aus dem Jahr 1970. Er gestaltete die letzte Strophe des Gedichtes zu einem Refrain und veränderte damit auch den inhaltlichen Duktus des Textes. Aufgrund der hohen Beliebtheit dieser Melodie wurde die Fassung von Fietz zusätzlich in manche Regionalteile des Evangelischen Gesangbuchs aufgenommen. Auch im neuen „Gotteslob“ findet sich neben einer unbekannteren, sehr frühen Vertonung von Kurt Grahl (1947) die Fietz-Melodie in diözesanen Eigenteilen.
Vor allem die Verwendung der letzten Strophe des Gedichts als Refrain führte dazu, dass sie wohl zu den bekanntesten Zeilen führten, die bis in unsere Gegenwart hinein losgelöst vom Gesamt des Textes auf Grußkarten, Kalenderblättern und Todesanzeigen abgedruckt werden. Vielleicht wirken sie aufgrund ihrer häufigen Verwendung bisweilen etwas abgenutzt. Aber gerade Ort und Zeit ihrer Entstehung geben ihnen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Es ist das Zeugnis eines Menschen, der sein Leben immer konsequenter in die Nachfolge Jesu gestellt hatte: 1906 in ein großbürgerliches Elternhaus hineingeboren, intellektuell begabt und mit einem großen Interesse an einer Erweiterung seines eigenen Lebenshorizontes, begann Bonhoeffer seinen theologischen Weg sowohl im Pfarrdienst als auch im Lehrbetrieb der Berliner Universität. Rückblickend stellte er fest, dass sich bei ihm erst durch die intensive und existenzielle Lektüre der Bibel und vor allem der Bergpredigt eine innere Wende vollzogen hatte. Die Frage nach den Konsequenzen eines Lebens als Christ stellte sich ihm gerade nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in immer bedrängenderer Weise. Sein leidenschaftliches Engagement gegen deren menschenverachtende Politik und sein Eintreten für eine entschiedene Haltung seiner Kirche gegenüber einem Unrechtsstaat brachte ihn nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges dazu, sich an Umsturzplänen zur Beseitigung Hitlers zu beteiligen. Wenn auch seine Inhaftierung 1943 in die Haftanstalt Tegel noch ohne Wissen um seine Mitwirkung im Widerstand erfolgte, war Bonhoeffer spätestens nach dem Scheitern des Hitler-Attentats im Juli 1944 klar, was dies in letzter Konsequenz für ihn bedeuteten musste. In den ersten Wochen des Jahres 1945 wurde Bonhoeffer von Berlin zunächst in das KZ Buchenwald und von dort schließlich in das KZ Flossenbürg gebracht. Dort erfolgte die Hinrichtung am Morgen des 9. April.
Schon früh haben Bonhoeffers Zeilen nach seinem gewaltsamen Tod Verbreitung gefunden und bis heute unzählige Menschen berührt. Mir ist das Lied zum ersten Mal als Jugendliche in einem Bibelkreis der evangelischen Kirchengemeinde in meinem Heimatort begegnet. Die Jahreszahl 1944 machte mich neugierig auf den Autor des Textes und ich konnte kurze Zeit später in der Bonhoeffer-Biografie Eberhard Bethges die Vorgeschichte und Entstehungssituation des Gedichtes entdecken. Seither sind eine Reihe von eindrücklichen Erfahrungen dazu gekommen: Als vor vielen Jahren Freunde von uns ihren Sohn nur wenige Tage nach der Geburt durch einen schweren Herzfehler verloren, druckten sie Bonhoeffers Zeilen auf der Trauerkarte ab. Bei der dritten Strophe: Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn ... aus deiner guten und geliebten Hand“ blieb eine Leerstelle im Text. „Dankbar und ohne Zittern“ konnten die trauernden Eltern den Verlust ihres Kindes nicht annehmen. Auch dafür ließ das Gedicht Raum. Und im vergangenen Jahr stand es auf dem Sterbebild einer durch Suizid zu Tode gekommenen Freundin. Sie spielte das Lied gerne selbst auf der Orgel. Bewegend war für mich auch, dass es in dem ökumenischen und interreligiös offenen Trauergottesdienst des Theologen Hans Küng im April des vergangenen Jahres zum Klingen kam.
Die Verse laden zum Nachspüren ein, in welchen Zeiten sie für uns wichtig geworden sind und uns trotz aller Dunkelheiten des Lebens Trost und Vertrauen vermitteln konnten: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Ein guter Wunsch für das neue Jahr! (Susanne Laun)