Donnerstag, 03. Februar 2022
Das „Mea culpa“ fehlt

Die Anwälte werfen dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen Fehler in seiner Amtszeit als Münchner Erzbischof vor. (Foto: kna)
Erschütternd am Münchner Gutachten ist, wie sich Kirchenführer aus ihrer Verantwortung winden
Dem emeritierten Papst Benedikt XVI. werden in dem Gutachten schwere Vorwürfe gemacht. Eine Behauptung aus seiner ersten Stellungnahme nimmt er zurück.
„Durch meine Schuld. Durch meine Schuld. Durch meine große Schuld.“ Wie oft haben die Kirchenführer, denen im Münchener Missbrauchsgutachten Fehlverhalten vorgeworfen wird, Gläubige in Gottesdiensten aufgefordert, so zu bekennen, dass sie „Gutes unterlassen und Böses getan“ haben? Und nun winden sich einige von ihnen in winkeladvokatischen Schachzügen, um die eigene Verantwortung. Das ist das eigentlich Erschütternde des Gutachtens.
497 mutmaßliche Betroffene und 235 Tatverdächtige sexuellen Missbrauchs nennt das Gutachten für das Erzbistum München-Freising für die Jahre 1945 bis 2019. Die meisten Feststellungen der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl sind wenig erstaunlich und decken sich mit anderen Gutachten: Die Verantwortlichen waren im Umgang mit diesen Fällen nicht am Wohl der Opfer, sondern am Schutz der Kirche und ihrer Kleriker interessiert. Ein „erschreckendes System der Vertuschung“ sahen die Anwälte. Bei Klerikern. Gegen nicht geweihte Missbrauchstäter ging man konsequent vor.
Fakten und Urteile werden vermengt
Die Stärke des Gutachtens: Es verlässt sich nicht auf die lückenhaften kirchlichen Akten, sondern hat auch Betroffene und Zeugen gehört. Auch bleibt es nicht bei einer juristischen Betrachtung stehen, sondern misst die Kirche am Selbstverständnis und muss ihr damit eine moralische Bankrotterklärung im Umgang mit Missbrauch attestieren. Dieses moralische Urteil ist gleichzeitig eine Schwäche: Zu sehr werden Fakten und Urteil vermengt. Und manche Argumentation ist schwierig, wenn „Zeugen vom Hörensagen“ angeführt werden.
Damit kommt diese Art Gutachten in einigen Fällen an Grenzen, die persönliche Schuld eines Verantwortlichen zu beurteilen. Dennoch sind die Urteile in den meisten Fällen überzeugend. Über Konsequenzen aus dem Gutachten wollte Münchens Erzbischof Kardinal Reinhard Marx nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe entscheiden. Ihm wird vorgeworfen, den Missbrauch erst 2018 zur Chefsache gemacht und zwei Fälle nicht an die Glaubenskongregation gemeldet zu haben.
Große Aufmerksamkeit erfährt das Gutachten vor allem, weil es den Missbrauchsskandal bis an die Kirchenspitze bringt. So werfen die Anwälte dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen Fehler in seiner Amtszeit als Münchner Erzbischof vor. In einer ersten Stellungnahme hatte Benedikt noch behauptet, dass er gar nicht anwesend war, als über die Aufnahme eines Missbrauchstäters in die Diözese entschieden wurde; Anfang der Woche nahm er diese Behauptung angesichts eines anderslautenden Protokolls als Versehen zurück. Von der Vorgeschichte des Missbrauchspriesters will der damalige Erzbischof Joseph Ratzinger dennoch nichts gewusst haben. Die Gutachter sehen das anders, können das aber letztlich nicht belegen. Dennoch: Als Erzbischof trug Joseph Ratzinger die Gesamtverantwortung für diesen Fehler. Der lässt sich durchaus aus dem Geist der damaligen Zeit erklären. Nicht aber die abwiegelnde Stellungnahme Benedikts von heute, in der er jede persönliche Verantwortung von sich weist und die Schuld bei den Untergebenen im Ordinariat sieht.
Eine Übernahme persönlicher Verantwortung, ein „Mea culpa“ eines so hohen Kirchenmannes wäre dabei doch ein wichtiger Schritt zur Heilung.
(Ulrich Waschki)