Mittwoch, 09. Februar 2022
Hier und heute

Grundsatzrede Jesu – bei Matthäus Bergpredigt, bei Lukas Feldrede. Fresko von Fra Angelico (1387 bis 1455), um 1440. Kloster San Marco, Florenz. (Foto: Kloster San Marco, Florenz)
Jesu „Selig“ und „Wehe“ gelten nicht nur fürs Jenseits
Zweifellos gehören die Selig-Rufe zu den bewegendsten Worten aus dem Mund Jesu. In der Überlieferung des Evangeliums nach Lukas bilden sie eine Einheit mit den Wehe-Rufen. Diese Passage wird, mit einer Einleitung, am heutigen Sonntag als Evangelium gelesen (Lukas-Evangelium 6,17–18a.20–26).
Ihre Bedeutung haben diese Worte auch dadurch, dass sie an herausragender Stelle stehen, nämlich am Anfang der – unterschiedlich überlieferten – Grundsatz-Rede Jesu: Nach dem Matthäus-Evangelium ist das die Bergpredigt (5,1–7,29), wofür Jesus auf einen Berg stieg, damit die Menschen ihn hören konnten, nach dem Lukas-Evangelium die kürzere Feldrede (6,17–49), wozu Jesus vom Berg in die Ebene („Feld“) kam, in der die Menschen waren. Verschiedenheiten weisen auch die Rufe selbst auf, die Lukas-Version ist wohl ursprünglich. Bei Jesus sind die Apostel und „eine große Schar seiner Jünger“. Zu ihnen redet Jesus, doch über sie zu den vielen Menschen, die ihm gefolgt waren. Und jetzt sind wir, durch das Evangelium, Hörerinnen und Hörer dieser Worte Jesu: Selig-Rufe und Wehe-Rufe sind für uns.
Doch dabei müssen wir Jesu Botschaft insgesamt hören. Wenn wir die eine Passage, gar einzelne Rufe für sich nehmen, ist Missbrauch nicht weit: Mit den Selig-Rufen deutete man allzu oft Armut, Hunger, Elend so, als ob sie notwendig wären, um ins Reich Gottes zu kommen. Man vertröstete Arme und Elende aufs Jenseits. Und die Wehe-Rufen mussten herhalten, Wohlstand und Reichtum als unüberwindbare Hindernisse für Gottes Reich zu verteufeln. Dies aber geben sie nicht her.
Das Reich Gottes fängt nicht erst im Jenseits an, sondern hier und jetzt: Das Reich Gottes ist da, mitten unter uns (Lukas-Evangelium 17,21). Mit Jesus Christus ist das Reich Gottes in die Welt gekommen, zu uns. Deshalb ist, was Selig-Rufe und Wehe-Rufe sagen, nicht fürs Jenseits, sondern (auch) für hier und jetzt, wie Bergpredigt und Feldrede insgesamt. Wenn da einmal vom „Lohn im Himmel“ die Rede ist, vertröstet dies nicht aufs Jenseits, sondern weist auf Vollendung hin. „Himmel“ – Gottes Reich, „Reich der Himmel“ heißt es im Matthäus-Evangelium – umfasst den „Himmel“ und jetzt mit Jesus auch die Erde, die Welt, wie Gottes Wille geschehen soll im Himmel und auf der Erde, und Gott ja nicht erst im Himmel barmherzig ist.
Mit den Selig-Rufen versichert Jesus die Armen, Hungernden und Weinenden, die vor ihm sitzen, der Solidarität Gottes. Das ist durchaus brisant, denn arm, hungrig, elend zu sein galt als Folge von Sünde, und deshalb hat sich Gott von ihnen abgewandt. Dagegen stellt Jesus sein glasklares Nein: Arm, hungrig, elend zu sein hat viele Ursachen, aber Gottes Strafe ist es auf keinen Fall. Gerade von Armen und Elenden wendet er sich nicht ab, im Gegenteil. Ohne Wenn und Aber solidarisiert sich Gott mit allen, die „abgehängt“ sind, die an den Rändern der Gesellschaft, auf den Schattenseiten des Lebens stehen.
Diese uneingeschränkte und vorbehaltlose Solidarität Gottes „verkörpert“ Jesus: Er heilt Kranke, tröstet Trauernde, gibt Hungernden zu essen, richtet Gebrochene und Gefallene auf, isst mit Sündern und Sünderinnen. Und in den Wehe-Rufen wendet sich Jesus den Reichen zu. Er mahnt und warnt sie: Reichtum kann blind machen für Gottes Reich und den Blick auf das verstellen, was dafür zu tun ist, nämlich an Gottes Solidarität mit den Armen und Elenden teilzunehmen, zupackend und tatkräftig. Jesus zeigt den Reichen den rechten Umgang mit ihrem Reichtum, vor allem, dass sie nicht ihr Leben und ihr Herz an ihn hängen, sondern ihn nutzen sollen, dass er dem Reich Gottes dient. Darum muss es zuerst zu tun sein.
Über die Menschen hinaus, die vor Jesus saßen, spricht er jetzt zu uns: Wir sitzen gewissermaßen vor Jesus und hören ihm zu. Das zeigt recht tiefsinnig dieses Bild des Malermönchs Fra Angelico aus dem 15. Jahrhundert, der ja mit seinen Bildern lehren und verkündigen wollte: Jesus sitzt am Berg und vor ihm im Halbkreis die zwölf Apostel. Er lehrt sie, und sie hören ihm andächtig zu. Einer aber, rechts am Ende des Halbkreises, schaut auf uns und hat seine Hände gefaltet, als ob er unsere „Andacht“ haben wollte: dass wir aufmerksam hinhören und Obacht geben, was Jesus sagt und es dann tun: Christen sind wir nur, wenn wir tun, was er uns sagt.
Wir dürfen uns nicht in jenem „Selig“ einrichten, wir brauchen auch nicht in dem „Wehe“ erstarren. Es gilt, die uneingeschränkte, vorbehaltlose Solidarität Gottes aufzugreifen und „nachzuahmen“, wo immer das für uns möglich ist, geboten ist es uns allemal. Das bedeutet, mitzuarbeiten am Reich Gottes. „Feldrede“ wie „Bergpredigt“ zeigen uns vieles, das wir konkret umsetzen können. Unserer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Etwa in der Mitte der „Feldrede“ heißt es: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas-Evangelium 6,36). Das ist denn mal ein Maßstab. (pil)