Mittwoch, 16. März 2022
Das eigene Tun und das Leid
Jesus lehnt einen Zusammenhang ab – Statt auf andere zu schauen, sollen wir unser eigenes Leben betrachten
Haben die Menschen in der Ukraine etwas Schlimmes getan, um dafür mit einem Vernichtungskrieg und unermesslichem Leid überzogen zu werden? Allein diese Frage erscheint schon völlig grotesk. Und doch gibt es diese uralte Vorstellung, dass menschliches Leid nicht von ungefähr kommt. Ja, dass es schon irgendeinen Grund dafür geben muss. Auch unser Text aus dem Lukasevangelium spielt mit dieser Vorstellung. Da lässt der bei den Juden verhasste Menschenschinder Pilatus Gräueltaten an unschuldigen Galiläern verüben. Oder waren sie etwa nicht unschuldig? Waren sie in Wahrheit vielleicht besonders üble Sünder und ihre Ermordung durch Pilatus daher so etwas wie die gerechte Strafe? Die Verknüpfung von Tun und Ergehen, der Verdacht, dass menschliche Schicksalsschläge doch irgendeine Bestrafung für was auch immer sein müssen, scheint schon seit Jahrtausenden im menschlichen Denken zu stecken. Es gibt sie leider immer noch, auch in unseren Tagen. Ob es der furchtbare Krieg im Osten ist, die Flutkatastrophe im letzten Jahr, die schwere Erkrankung eines Menschen. Irgendein abseitiger Grund findet sich immer, mit dem sich solche Schicksalsschläge vermeintlich deuten lassen. Sei es ein als unmoralisch empfundener Lebenswandel. Die Missachtung religiöser Gebote. Die politische Gesinnung. Menschen, die sich so etwas zusammenreimen, ist es offenkundig egal, wie menschenverachtend sie daherreden und welch krudes Bild von Gott sie dabei offenbaren.
Einen derart konstruierten Zusammenhang von Tun und Ergehen gibt es aber nicht! Der persönliche Schicksalsschlag, der einen Menschen trifft, sagt nichts darüber aus, ob dieser Mensch moralisch gut oder schlecht ist. Auch Jesus betont das ausdrücklich, zweimal sogar! Das klingt zunächst beruhigend eindeutig, doch dann werden die berichteten Katastrophen mit einem Aufruf zur Umkehr verknüpft. „Ihr werdet alle ebenso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt!“, lässt Jesus seine Zuhörer wissen. Ist ein Zusammenhang von Tun und Ergehen für ihn also doch nicht von der Hand zu weisen? Die Worte, die der Evangelist Lukas Jesus in den Mund legt, sind leider nicht besonders glücklich, denn um diesen Zusammenhang geht es hier nicht. Gemeint ist vielmehr, dass die Zuhörer ihre Blickrichtung ändern sollen. Nicht mit abseitigen Mutmaßungen über die Schuld anderer sollen sie sich beschäftigen, sondern vielmehr auf ihr eigenes Leben schauen. Denn das ist zu jeder Zeit bedroht, und immer steht es in der Gefahr zu scheitern, nicht zuletzt durch eigenes Versagen.
Dabei ist es im Leben nie zu spät, die Richtung zu ändern. Es ist nie zu spät, Dinge aufzugeben, die mir und anderen schaden. Meinen Lebensstil zu ändern etwa, so dass er gesünder, nachhaltiger oder lebensdienlicher wird. Einen fruchtlosen Streit beizulegen, der nur Ärger und gegenseitige Verletzungen bringt. Um Vergebung und Versöhnung zu bitten, wenn ich Dummes getan und einem anderen Kummer zugefügt habe. Und auch um Gott zu suchen, ist es niemals zu spät.
Das Bild des Feigenbaums mag das illustrieren. Dabei lässt das Bild offen, wer oder was damit gemeint sein soll. Das Gleichnis entzieht sich jeder allzu direkten Interpretation. Der fruchtlose Feigenbaum macht vielmehr deutlich, dass die Zeit, die uns dafür bleibt, nicht unbegrenzt ist. Die Möglichkeit, einen eingeschlagenen Weg zu ändern, besteht dagegen immer. Sie steht offen, solange ich lebe, denn im Leben ist es nie zu spät. (Martin Wolf)