Freitag, 13. Mai 2022
Liebe ist mehr als ein Gefühl

Weil wir wissen, wie es sich anfühlt, von anderen liebevoll behandelt zu werden, können wir dies auch anderen Menschen schenken. (Foto: Ocskay Mark/AdobeStock.com)
Sie ist eine ganzheitliche Haltung unseres Christseins
Die Lesungen dieses Sonntags schauen nach vorn. Voller Aufbruchstimmung regen sie an, unser Heute auf eine Zukunft voller Verheißung hin zu betrachten: ein neuer Himmel, eine neue Erde, das himmlische Jerusalem, Abschaffung des Leides und des Todes. Wunderbare Bilder und große Visionen.
Da stellt sich die Frage, ob wir zur Zeit nicht – in der Welt und gerade auch in der Kirche – aller Visionen müde sind. Ist die Idee von der Liebe zu Schwestern und Brüdern, wie sie Jesus im Evangelium als grundlegenden Auftrag mitgibt, tatsächlich realistisch? Erweisen sich all diese Träume nicht als ausgeträumt – innerhalb einer gespaltenen und in Konfessionen aufgeteilten Christenheit, aber auch in der „einen, heiligen, katholischen“ Kirche und erst recht in Gesellschaft und Politik weltweit? Wo ist etwas von der Liebe zu spüren – mitten in den Bemühungen um nationale Sicherheit und Stabilität? Wo können wir noch von der Liebe reden, wenn der Krieg und die Sorge um die Existenz und das wirtschaftliche Überleben jeden anderen Gedanken verdrängen?
Menschen erwarten etwas von der Zukunft, durchaus auch viel Gutes. Das ist ihr gutes Recht. Wir brauchen die Hoffnung und die Vision, dass unser Leben gelingen kann – und dass es auch gelingt, dass sich hinter all dem, was uns unbegreiflich ist und bleibt, ein Sinn verbirgt. Und trotzdem müssen wir damit umgehen, dass Frieden zwar eine tiefe Sehnsucht des Menschen ist, aber für manche von uns durch die Gier nach Macht und Geld noch weit übertroffen wird. Wir müssen damit umgehen, dass manche Visionen des Christentums gescheitert sind und immer neu scheitern. Wir sind dem Liebesgebot Jesu nicht gerecht geworden. Wir schaffen es auch aktuell nicht, diese Liebe zu leben.
Ein Gedanke, der für mich dabei wichtig geworden ist, lädt ein, Liebe nicht als ein Gefühl zu verstehen, das uns mit rosaroter Brille durchs Leben gehen lässt und sich auf einen einzigen oder auch ganz wenige Menschen bezieht, die uns sehr nahe stehen. Liebe – das entspricht auch einer inneren Haltung, mit der ich Menschen und Gott und meinem Leben Tag für Tag begegne.
Der Optimismus der heutigen Texte kann zu dieser Haltung beitragen, hinführen. Die Worte Jesu im Evangelium stammen aus den Abschiedsreden Jesu bei Johannes, sind also quasi sein Testament, das er seinen Freunden und Freundinnen und uns als Minimal- oder als Maximalforderung mit auf den Weg gibt. Das Liebesgebot ist absolut unaufgebbar für die Urkirche und für uns. Es gehört zur christlichen DNA, genau wie die Gottesliebe.
Wenn wir es ernst nehmen, könnten wir uns also fragen (lassen), wie sich die Liebe ganz praktisch umsetzen lässt. Wir könnten überlegen, an welcher Stelle, in welcher Situation wir uns einen liebevollen Menschen wünschen würden und was dieser Mensch uns an Gutem tun sollte.
Wahrscheinlich kommen wir dabei zu unterschiedlichen Wünschen, weil wir unterschiedliche Bedürfnisse haben. Aber ob es dann für uns eine Hand auf der Schulter ist oder ein Anruf in einer einsamen Stunde, ob wir uns jemand wünschen, der uns zuhört oder die uns auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen einlädt – ob es ein freundliches Gesicht beim Einkauf ist oder eine Narkoseaufklärung vor der Operation mit einem zuversichtlichen „Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben da viel Erfahrung und sind für sie da!“
Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, wenn uns jemand liebevoll begegnet, wenn wir ernst genommen werden, angeschaut werden, gemocht werden. Und genau das können wir auch anderen Menschen schenken. Das muss keine Vision bleiben, das können wir jederzeit in die Wirklichkeit umsetzen.
Wir brauchen auch weiterhin Visionen, als Bistum, als Kirche, als Gesellschaft, als Weltgemeinschaft und als Einzelne, wir brauchen aber auch Menschen, die Visionen im Hier und Jetzt leben, umsetzen, die versuchen, sie zu realisieren – ohne die Angst, (sie) dabei zu verlieren. Wir brauchen Menschen, die der Hoffnung und der Liebe ein Gesicht geben – oder mit anderen Worten: die dem Evangelium ein Gesicht, ihr Gesicht geben. Liebe als unser christliches Markenzeichen sozusagen. Wär‘ doch schön, wenn Menschen uns daran erkennen könnten, dass wir anders, liebevoll miteinander umgehen!
Wie wär’s… Sind Sie dabei? (Annette Schulze)