Mittwoch, 22. Juni 2022
Ein uraltes Menschen-Schicksal
Flucht und Vertreibung früher und heute: Ein Beleg, wie fragil das Leben ist
Ein Säckchen Heimaterde. Ein Schlüssel, mit dem sie in aller Eile das eigene Haus abgeschlossen haben. Das ist oft alles, was Flüchtlinge in die Fremde mitnehmen können. Und die Erinnerung.
Flucht und Vertreibung sind uraltes Menschheitsschicksal. Vom biblischen Israel, das aus Ägypten floh, über die verfolgten französischen Hugenotten, die sich in Preußen niederließen, bis zu den Millionen Menschen, die die Nationalsozialisten vertrieben, den Millionen Deutschen, die in der Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen mussten, und den Flüchtlingen von heute, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben riskieren.
100 Millionen auf der Flucht
Doch so schlimm wie derzeit war es wohl noch nie. „Weltweit sind aktuell 100 Millionen Menschen auf der Flucht“, teilte das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR aus Anlass des Weltflüchtlingstags (20. Juni) mit. Sie flüchten vor Kriegen, Umweltkatastrophen, Krisen und Gewalt, vor Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine der größten Vertreibungskrisen nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Rund 14 Millionen Menschen sind innerhalb der Ukraine und über die Landesgrenzen hinweg auf der Flucht. In den vergangenen Jahren sind die Flüchtlingszahlen nicht nur jährlich gestiegen, sie haben sich im Zehnjahresvergleich verdoppelt.
„Letztlich sind alle, die vor Krieg und Gewalt fliehen, in einer ähnlichen Situation, egal ob früher oder heute“, sagt der Berliner Historiker Andreas Kossert, der 2020 den Bestseller „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ veröffentlicht hat und dessen Familie selbst 1945 aus Masuren geflohen ist. „Flucht bedeutet zu allen Zeiten Angst, häufig Todesangst, und stete Ungewissheit.“ Die Menschen müssten sich fragen, was sie mitnehmen und tragen könnten. Heutzutage haben sie nur einen Rollkoffer oder Rucksack dabei; die Kinder ihr Lieblings-Stofftier.
Dass Flüchtlinge willkommen geheißen werden, ist historisch die Ausnahme, sagte Kossert vergangene Woche im „Zeit“-Interview. Oft betrachteten die Einheimischen sie als Eindringlinge und Konkurrenz. Dabei spiele es „eine Rolle, wie vertraut uns Kultur und Sprache der Menschen sind, die zu uns kommen. Und wie gut wir die Ursachen ihrer Flucht verstehen“. Flucht sei zudem seit Menschengedenken eine Erfahrung, die in erster Linie Frauen und Kinder machen. Die jüngeren Männer sind im Zweifelsfall jene, die den Krieg ausfechten müssen oder für immer auf dem Schlachtfeld bleiben.
Die Hoffnung auf Rückkehr und die Sehnsucht nach dem Verlorenen bleiben oft ein Leben lang. „Im 20. Jahrhundert, im Zeitalter des Massenphänomens Zwangsmigration, ist die Heimkehr eher die Ausnahme geblieben“, analysiert Historiker Kossert. Auch wer schon Jahrzehnte in einer neuen Heimat lebe, bleibe häufig innerlich zerrissen und fühle sich nirgends richtig zu Hause. Ein emotionaler Spagat. Und wer zurückkehren könne, finde häufig auch nicht mehr die Heimat vor, die er oder sie verlassen habe. Weil Menschen anderer Religion oder Herkunft inzwischen die Wohnungen übernommen haben.
Flüchtlinge verunsichern uns
Flucht löst nach Überzeugung des Historikers auch Verunsicherung bei den Gesellschaften aus, die die Flüchtlinge aufnehmen. „Menschen, die auf der Flucht sind, konfrontieren uns mit etwas, das unser Vorstellungsvermögen übersteigt, aber trotzdem tief im Inneren etwas berührt: die Ahnung, dass es uns selbst treffen könnte.“ Auch die Ukrainer, die derzeit nach Deutschland gekommen sind, hätten sich bis zum 23. Februar nicht vorstellen können, dass sie ihren Rucksack schnüren müssen, sagt Kossert. „Flüchtlinge erinnern uns daran, wie fragil unser Leben ist.“(Christoph Arens/KNA)