Dienstag, 27. Dezember 2022
Die im Herzen barfuß sind
Feinfühlig werden für alles, was geschieht. Wie Maria
Im frischen Schnee barfuß gehen: haben Sie das schon einmal gemacht? Ich schon. Natürlich ist es im Sommer angenehmer. Aber ich mag es, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, um den Boden zu spüren, die Erde, den Sand, die Steinchen, den Schnee, Kälte und Wärme, sommers wie winters.
Eine Frau hat mir einmal erzählt: Ein paar Jahre lang fand sie es eher kindisch, barfuß zu laufen. Bis sie Mitte zwanzig war. Damals stand sie in einer der entscheidenden Phasen ihres Lebens. Ihr Studium war zu Ende, und ihr stellte sich die Frage: Wie geht es weiter? Was soll aus mir werden? Es war für sie eine unglaublich intensive Zeit: Sie war unglaublich feinfühlig für Worte, Zeichen, versuchte jede Kleinigkeit ihres Lebens zu deuten. Sie überlegte, was Gott ihr dadurch sagen könnte. Und merkwürdigerweise habe sie in dieser Zeit auch entdeckt, wie gut sie über sich nachdenken könne, wenn sie barfuß über Wiesen und Wege geht.
„Für alle, die im Herzen barfuß sind“: so endet ein Gedicht des tschechischen Poeten Jan Skácel, wunderbar übersetzt von seinem deutschen Lyriker-Kollegen Reiner Kunze. Das hat mich sehr angesprochen. „Die im Herzen barfuß sind“: das sind jene, die sich nicht von ihren Eindrücken überrollen lassen, nicht einfach über alles hinweggehen, sondern alles bewusst wahrnehmen möchten. Im Herzen barfuß war die Frau damals Mitte zwanzig, Im Herzen barfuß sind auch unsterblich Verliebte, die ständig alle Signale des angebeteten Gegenübers deuten, ob die eigene Liebe erwidert wird. Im Herzen barfuß sein, ist intensiv, fordert, tut manchmal weh – und ist sehr, sehr schön.
Im Herzen barfuß: auch Maria war es. Sie, die Muttergottes, steht am Neujahrstag besonders im Fokus. Lukas sagt in seinem Evangelium: Maria behielt alle Geschehnisse und Worte. Erstaunlich. Alles, was passiert und gesagt worden ist: als der Engel ihr begegnete, als sie bei Elisabet zu Besuch war, als sie und Josef sich auf den Weg nach Betlehem machten, als sie unter widrigsten Umständen ihr Kind gebar, als die Hirten kamen und erzählten: Es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, der Heiland sei geboren worden, und dieser Messias sei genau das Baby, das in Windeln gewickelt, in ihrem Schoß liegt.
All das nimmt Maria feinfühlig wahr und verwahrt es in ihrem Innern. Und mehr noch: Sie bewegt es in ihrem Herzen. Sie denkt nicht nur darüber nach, wie es in der Einheitsübersetzung heißt, sondern sie wiegt es hin und her. Sie betet darüber, fragt Gott: „Was willst du mir damit sagen?“ Für Maria ist das nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern auch des Herzens, im Grunde des ganzen Menschen vom Kopf bis zu den Füßen.
„Im Herzen barfuß“ werden wie Maria: wäre das nicht ein guter Vorsatz für das neue Jahr? Nicht hart und gefühllos funktionieren, über alles hinweggehen, sondern ein Gespür entwickeln für das, was in meinem Leben passiert. Und wie könnte das gehen? Ich habe einen Vorschlag für Sie – wenn Sie es noch nicht schon längst tun: Nehmen Sie sich im Neuen Jahr Zeit für einen Tagesrückblick kurz vor dem Schlafengehen. Und lassen Sie dabei alles, was Sie erlebt haben, noch einmal vor Ihrem inneren Auge vorüberziehen, das Schöne wie das Schwere, bewegen Sie es in Ihrem Herzen, fragen Sie: Was möchtest du mir, Gott, durch diese Begegnung sagen, durch jene Überraschung, durch diese Verunsicherung?
Wer weiß, ob Ihnen da nicht manches neu aufgeht, das im Alltagsgewühl versunken war. Und Sie werden sehen, wie Sie dadurch langsam Ihre Sinne schulen werden: nicht nur Auge, Ohr und Hand, auch die Sinne ihres Herzens. Selbst auf die Gefahr hin, dass es dann manchmal am Abend piekst und wehtut: Sie werden wacher, bewusster durch ihr Leben gehen und weiterkommen auf Ihrem Weg mit Gott.
Barfuß gehen im Winter - ich gebe es zu, ist schon ein bisschen verrückt. Aber im Herzen barfuß sein: Das ist dran zu jeder Jahreszeit.Volker Sehy