Dienstag, 29. August 2023
In der Grundschule Wesentliches lehren
Studie bringt erschreckenden Trend ans Tageslicht: Ein Viertel der Zehnjährigen kann nicht richtig lesen
Wenn jetzt wieder die Schule losgeht, ist das ein guter Anlass, den Blick auf ein Thema zu werfen, das kürzlich für viel Aufregung gesorgt hat – und (zu) schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwand: Das Ergebnis der sogenannten IGLU-Studie. Diese „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“ hat Mitte Mai zu Tage gefördert, dass 25 Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland nicht über die Lesekompetenz verfügen, die dafür nötig ist, den Rest der Schulzeit erfolgreich zu überstehen. Im Klartext: Ein Viertel unserer Grundschüler kann nach dem Ende der Grundschule nicht richtig lesen. Das ist ein Armutszeugnis.
Damit sind die deutschen Werte zu dritten Mal in Folge gefallen. 2017 waren es schon ebenfalls unrühmliche 19 Prozent der Viertklässler, die mit dem Lesen nicht klar kamen. Mit einer weiteren Verschlechterung hatte aber niemand gerechnet. Zwar ist unbestreitbar, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft verändert hat und auch Corona für den Lernerfolg kontraproduktive Folgen hatte. Aber beide Faktoren alleine reichen nicht als Begründung für den erneuten Tiefstwert – in dem die Autoren der Studie keinen Ausreißer, sondern einen Trend sehen. Zumal auch andere negative Entwicklungen unverändert geblieben sind. Für den Bildungserfolg in Deutschland ausschlaggebend ist nach wie vor zu einem erheblichen Teil die soziale Herkunft. Da hat sich seit 20 Jahren nichts getan.
Diese Ergebnisse muss man sich auch deswegen genauer ansehen, weil Bildungspolitik traditionell linke Domäne ist und der Schulsektor ganz gerne zum Experimentierfeld der unterschiedlichsten Theorien genutzt wird. Das Wörtchen „Reform“ hatte im Bereich Bildung schon immer nicht nur pädagogischen, sondern auch Gesellschaft verändernden Klang. Wenn jetzt das Ergebnis lautet, dass Herkunft immer noch der Bildungs-Booster ist und ein Viertel der Viertklässler das Rennen schon verliert, noch ehe es überhaupt begonnen hat, dann kann das wohl nicht die Veränderung sein, die gemeint war.
Es empfiehlt sich also durchaus, mal zu schauen, wo es besser läuft. Klassiker sind hier Singapur und Hongkong – beides Länder mit Bildungssystemen, die allerdings nicht unbedingt vorbildfähig in Europa sind. Aber England, Polen und Finnland liegen ebenfalls deutlich vor Deutschland. Es gibt also praktisch in allen Himmelsrichtungen Beispiele dafür, dass man es offensichtlich besser machen kann. Wer sich lange Analysen sparen will, dem hilft die Studie mit einem Tipp: „Klare Prioritätensetzung in Bezug auf die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen … den ersten Grundschuljahren“. Wenn mehr gelesen wird, können die Kinder auch besser lesen. Und mit höherer Lesekompetenz verringert sich auch die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von sozialen Faktoren, meinen die Autoren der Studie.
Das klingt nach einem ganz einfachen Plan. Und der eindeutigen Aufforderung, die Grundschule auf das Wesentliche zu konzentrieren und nicht mit Aufgaben, Erwartungen und Experimenten zu überfrachten, die dort nicht hingehören. Das ist weder spektakulär noch revolutionär. Aber wenn es den Kindern hilft, spielt das keine Rolle. Denn sie sind die Leidtragenden von Defiziten, die sie ihr Leben lang begleiten. (Stefan Dreizehnter)