Mittwoch, 06. September 2023
„Suizid muss Thema werden“
Der Theologe Christoph Hutter erklärt, wie wir verzweifelten Menschen das Leben retten können
Pro Jahr nehmen sich in Deutschland ungefähr 10 000 Menschen das Leben. Woran können wir erkennen, dass jemand akut gefährdet ist? Und wie können wir helfen?
Seit vielen Jahren berät Christoph Hutter Menschen, die in Krisen stecken. Und immer wieder spürt er, wie wichtig es ist, ein Tabu zu brechen. Das Tabu, über Suizid zu reden. „Suizid muss Thema werden“, sagt der Leiter der Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung im Bistum Osnabrück. Sein Plädoyer: „Leute, seid mutig, das Thema anzusprechen – so plump und offen, wie es geht!“ Im Zweifel ganz direkt: „Hast Du darüber nachgedacht, Dir was anzutun?“ Wenn der Gesprächspartner dann nicht glaubhaft versichere, dass er sich nicht umbringt, müsse man sofort Hilfe holen.
In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen, zuletzt etwa 10 000 pro Jahr. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention schätzt, dass es etwa 10- bis 20-mal häufiger zu einem Suizidversuch kommt.
„Die Betroffenen können nicht mehr drüber reden. Das muss ich durchbrechen“
Dieser Sonntag, der Welttag der Suizidprävention, ist ein Anlass, daran zu erinnern. „Wo immer ich Suizidalität auch nur wittere, muss ich offensiv werden“, sagt Hutter. „Denn die Betroffenen können nicht mehr drüber reden. Das muss ich durchbrechen.“ Viele Menschen hätten Angst, dass sie durch ihr offenes Wort einen Suizid erst auslösen könnten. Das sei falsch: „Das passiert nie und nimmer!“
Wie aber erkenne ich, dass jemand in akuter Gefahr ist, sich das Leben zu nehmen? Hutter sagt, ein Warnsignal sei, wenn ein Mensch sich zurückzieht. Wenn er sich für immer weniger Themen und Leute interessiert: „Wann immer ich den Eindruck habe, dass jemand von meiner Bildfläche verschwindet, dann muss ich da nachhaken.“ Wenn ich ihn nicht mehr erreiche, wenn er sowieso seltsam war in letzter Zeit, wenn er nicht mehr zu Partys gekommen ist, wenn er den wöchentlichen gemeinsamen Kaffee plötzlich immer absagt. Dann müsse ich fragen: „Hey, was ist los mit Dir?“
Besonders suizidgefährdet sind drei Gruppen: junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren, alte Menschen und Männer. Junge Menschen, sagt Hutter, rätselten: „Finde ich meinen Platz, im Beruf, in Beziehungen, im Leben?“ Sie seien oft überfordert von der Unübersichtlichkeit der Welt und den Ansprüchen, die es gibt: „Sie denken: Es muss alles toll sein und ich muss den besten Studiengang aus 30 000 Angeboten rausfinden und wenn ich das nicht schaffe, fällt es sofort auf mich zurück.“
Bei alten Menschen, so Hutter, sei das größte Problem die Einsamkeit: „Ihnen fehlen Respekt vor ihrer Lebensleistung, Aufgaben, Sinn, Kontakte und Einbeziehung in soziale Netzwerke.“ Männer wiederum lernten ihr ganzes Leben, durchzuhalten, hart zu sein und alles schon in den Griff zu kriegen, sagt Hutter. Sie lernten nie, dass sie auch schwach und verletzbar sein dürfen: „Und wenn sie irgendwann etwas nicht mehr in den Griff kriegen, dann gehen sie.“
Jeder kann helfen, dass möglichst wenige Menschen in tiefste Verzweiflung rutschen. Indem sie da sind, Nähe schenken, zuhören. Und, wenn’s ernst zu werden droht: reden – und handeln. (Andreas Lesch)
Wenn Sie oder ein Angehöriger Suizidgedanken haben, wenden Sie sich an die Telefonseelsorge (0800-1110111 und 0800-1110222). Hilfen und Beratungsstellen in Ihrer Region finden Sie unter: www.suizidprophylaxe.de