Freitag, 28. Januar 2022
Sonderzüge kamen am Bahnhof an, sämtliche Straßenlampen von Mittelbexbach brannten und waren mit schwarzen Tüchern verhängt, als sich ein unübersehbarer Trauerzug von der St. Martinskirche zum Friedhof bewegte. Geistliche Würdenträger, Priester, Arbeiter- und Bergmannsvereine, Gewerkschaftler und zahllose Gläubige begleiteten am 12. Februar 1922 den Sarg von Dr. Ludwig Nieder durch die Straßen Bexbachs. Bergleute und Turner trugen den Sarg ihres Kameraden und hielten brennende Kerzen und Grubenlampen in den Händen.
Wer war dieser 41-Jährige, der von Dompfarrer Gebhard aus Speyer bestattet wurde? Sein Name war in ganz Deutschland bekannt in Zusammenhang mit den Rechten der Arbeiterschaft, vor allem der Bergleute. Als Unterstützer der christlichen Gewerkschaftsbewegung war er Kontaktperson und Vermittler zwischen dem deutschen Episkopat und der Basis, hielt Vorträge in ganz Deutschland und im benachbarten Elsass-Lothringen und veröffentlichte zahlreiche Schriften im Verlag des „Volksverein Mönchengladbach“. Der Speyerer Bischof Konrad von Busch hatte ihn für diese Arbeit freigestellt.
Geboren wurde Ludwig Nieder als Sohn des Metzgers Karl Nieder am 1. Mai 1880 in Bexbach, mitten im saarpfälzischen Kohlenrevier gelegen. Seine Mutter Anna-Maria stammte aus dem benachbarten Dunzweiler, sie starb, als er zehn Jahre alt war. Die Nieders waren nicht reich, doch wurde immer an Bedürftigere verteilt. Der begabte Turner wurde nach seinem Weggang zum Studium Ehrenmitglied des örtlichen Turnvereins. Im Protokollbuch des katholischen Jünglingsvereins finden sich interessante Anmerkungen, die der damalige Präses als „Kaplanokratie und nicht passend für einen Schriftführer“ abtat. Diese frühen Aufzeichnungen bezeugen bis heute sein soziales Engagement. Er selbst schreibt rückblickend: „Sonnig und neu stand die Zeit vor mir, wo ich unbekümmert um alle Schulsatzungen mit unseren Bergleuten den Turnsport trieb, wo ich bei ihnen im Kolpingschen Jünglingsverein meine ersten Reden hielt und das Lied ,Vater Kolping lebe hoch‘ unzähligmal mitsang, wo ich ihnen Bibliothek und Lesezirkel einrichten half, Theaterstücke mit ihnen übte und spielte... die Zeit, wo ich in den Volksvereinsversammlungen... die ersten sozialpolitischen Gedanken einsog...“
Nach dem Besuch der höheren Schulen in Homburg und Zweibrücken ermöglichten Verwandte Ludwig Nieder das Studium der Theologie, ihm lagen die Nöte seiner Mitmenschen – vor allem der ärmeren – am Herzen. Ihnen wollte er als Seelenführer zur Seite stehen, sie in christlicher Hoffnung begleiten und Wege aus dem Elend aufzeigen. 1904 wurde er von Bischof Josef Georg von Ehrler zum Priester geweiht und als Kaplan nach Neustadt-Diedesfeld geschickt. Nieder schreibt: „Ich bin in meinem Berufe unsagbar glücklich, besonders drei Dinge wirken mit: 1. Die immer überraschender mir aufgehende Tiefe des hl. Messopfers, 2. Die Verpflichtung unseres heiligen Glaubens auf die Geringsten der Menschen, 3. die immer sonniger sich enthüllende Beziehung zwischen Natur und Offenbarung.“ Als ein Hagelunwetter die Weinernte an der Haardt fast vollständig vernichtete, war es der Diedesfelder Kaplan Nieder, der in Speyer und München vorstellig wurde und erreichte, dass die Winzer Entschädigungen bekamen. Die „Dr.-Nieder-Straße“ in Neustadt-Diedesfeld erinnert bis heute an den tatkräftigen Seelsorger.
Der „Volksverein für das katholische Deutschland“, Vorläufer der heutigen Volkshochschulen, erreichte nach einer Anfrage in Speyer, dass Ludwig Nieder zum Weiterstudium nach München beurlaubt wurde und im Jahre 1909 seine Dissertation in Volkswirtschaft über die ungerechte Entlohnung der Saarbergleute vorlegte. Sein berühmter Professor Lujo Brentano bezeichnete die Arbeit als „Muster einer tiefschürfenden, neue Aussichten eröffnenden Untersuchung“, bis heute ein Standartwerk. So kam Nieder zur Volksvereinszentrale nach Mönchengladbach. Ein umfangreiches schriftstellerisches Werk geht auf ihn zurück, als exzellenter Redner sorgte er für volle Säle, immer wieder kamen die Arbeiter begeistert auf ihn zu.
Er selbst lebte bescheiden, seine Schwester Anna besorgte den Haushalt. Auf Anregung ihres Bruders hatte sie die Leitung des katholischen Dienstbotenvereins in München von 1919 bis 1953 inne. Der Verein wirkt bis in die Gegenwart als Berufsverband katholischer Arbeitnehmerinnen in der Hauswirtschaft. Ludwig und Anna Nieder waren während des Ersten Weltkriegs in der Munitionsfabrik Hallschlag (Eifel) einquartiert, sie als Betreuerin der Arbeiterinnen, er als Seelsorger für das Werk und die Nachbargemeinden. Die Chronik berichtet von seinem beherzten Eingreifen, indem er in letzter Minute eine Explosion verhinderte.
1919 wurde Nieders Freistellung für seine Volksvereinsarbeit durch Bischof Faulhaber erneuert. Nach wie vor galt sein Einsatz den arbeitenden Volksschichten. Begeistert wurden seine Reden aufgenommen. Er warnte die Jugend vor falschen Ideologien und ermunterte die Frauen zu verstärktem Engagement in Kirche und Staat. In Konferenzen schulte er Laien zu praktisch-sozialer Arbeit und war mittlerweile in ganz Deutschland bekannt.
Im Priesterseminar Speyer und in Deidesheim hielt er nach einer Vortragsreihe in der Heimatdiözese seine letzten Ansprachen, bei der die Anwesenden bereits deutlich seine gesundheitliche Schwäche spürten. Die Diözesangeistlichen und die Alummnen des Priesterseminars Speyer hielten Gebetswachen für den schwer Erkrankten. Am 7. Februar 1922 starb er im Deidesheimer Pfarrhaus an einer schweren Lungenentzündung und wurde in der dortigen Spitalkirche aufgebahrt. Seine letzten aufmunternden Worte: „Betet für mich und arbeitet weiter. Herr, dein Wille geschehe.“
Posthum ernannte ihn seine Heimatgemeinde Bexbach zum ersten Ehrenbürger. Der mit Blumen und Kerzen umsäumte Sarg wurde täglich von Hunderten aufgesucht. Das Requiem und die Trauerpredigt wurde in seiner Pfarrkirche vom Speyerer Domdekan Franz-Joseph Gebhardt gehalten. Ludwig Nieders Beliebtheit wurde augenscheinlich beim größten Trauerzug, den die Gemeinde je erlebt hatte. Während fast alle Priester- und Schwesterngräber auf dem Bexbacher Friedhof eingeebnet wurden, blieb seine Ruhestätte mit dem Bronzerelief des barmherzigen Samariters erhalten. In Bexbach wurde ebenfalls eine Straße nach ihm benannt.
In einem Gebet zu Ehren des großen Förderers der Sozialen Bewegung heißt es: „Er ging durch ganz Deutschland, um das Evangelium der Liebe in Wort und Tat zu verkünden. Sein Ziel war eine gerechte Gesellschaftsordnung, frei von Ausbeutung und Unrecht, getragen vom Geist Jesu.“ (Hans-Joseph Britz)