Mittwoch, 23. März 2022
Es ist Krieg – ein ratloser Psalm

Der Tempel in Jerusalem ist zerstört – allein eine Stützmauer am Tempelberg ist aus der Zeit des Herodes/der Zeit Jesu erhalten. Wir kennen sie als „Klagemauer“: Hier versammeln sich viele Juden zum Gebet. (Foto: Alois Moos)
Zur Theologie und Spiritualität der Psalmen
Das Unfassbare des Krieges gegen die Ukraine hat der Trierer Pfarrer Stephan Wahl in die Form eines Psalms gebracht – inspiriert vom Reichtum und der Ehrlichkeit der Psalmen Israels.
Viele Leser des „Pilger“ kennen diese Psalmen aus dem Gesangbuch, dessen Titel auch Programm ist: „Gotteslob“. In der Tat sind Lob und Lobpreis Gottes eine selbstverständliche Grundhaltung, bringen wir doch dadurch zum Ausdruck, dass wir als Geschöpfe die Größe und Herrlichkeit Gottes, des Schöpfers, anerkennen. Ergänzt wird dieses Beten, dieses ins Wort bringen unserer Beziehung zu Gott durch Bitte und Dank: Weil Gott so groß und so erhaben ist, tragen wir unsere Bitten vor ihn und wir haben immer wieder Grund, Gott zu danken. Dies alles ist jedoch nur dann richtig und ehrlich, wenn wir zugleich Raum für unsere Klagen, ja sogar Anklagen haben.
Auch in dieser Hinsicht kann uns die Sammlung der biblischen Psalmen die Augen öffnen für eine ehrliche Gottesbeziehung. In den Psalmen wird auch geklagt, ja sogar angeklagt. Dieses (An-) Klagen ist kein Jammern, um sich mal Luft zu machen. In der Klage wenden sich Menschen bewusst an Gott, sprechen ihn an und bestätigen gerade dadurch, dass auch Lob und Preis ehrlich sind. Es wäre falsch, Klage und Lob als widersprüchliche Haltungen gegeneinander auszuspielen. Die Psalmen bezeugen den Glauben ganzer Generationen von Betern, dass Gott uns immer noch zugewandt ist, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Klagen heißt dann, dass wir weder vor Gott verstummen noch unsere Gottesbeziehung gegenüber Dritten verschweigen. Um es pointiert zu sagen: Gott sei Dank, dass wir ihn anklagen dürfen. (Alois Moos)
Aufgeschreckt bin ich, Ewiger, reibe mir zitternd die Augen, ein Traum muss es sein, ein schrecklicher, ein Alptraum
Entsetzt höre ich die Nachrichten, kann es nicht fassen, Soldaten marschieren, kämpfen und sterben. Es ist Krieg.
Der Wahn eines Mächtigen treibt sie zu schändlichem Tun, mit Lügen hat er sie aufgehetzt, mit dem Gift seiner Hassreden.
In den Kampf wirft er sie, missbraucht ihre Jugend, missbraucht ihre Kraft, erobern sollen sie, töten sollen sie, sein Befehl ist eiskalt.
Seine Nachbarn hat er zu Feinden erklärt, ein Zerrbild gemalt, in den dunkelsten Farben seiner wirren Machtphantasien.
Niemand wagt ihm zu widersprechen, seine Vasallen halten still, ein Marionettentheater umgibt ihn, das er höhnisch bespielt.
Seine Bosheit hat Raffinesse, listig und schamlos geht er voran, die Versuche ihn umzustimmen lässt er ins Leere laufen,
umsonst sind sie angereist aus besorgten Ländern, Friedensappelle und Warnungen ließen ihn kalt.
Angst und Schrecken verbreiten sich, blankes Entsetzen, wie viele Verletzte wird es geben, wie viele Tote?
Wann wird die gefräßige Gier des Tyrannen gesättigt sein, wann der Blutstrom versiegen, wann werden die Waffen schweigen?
Hilflos starre ich auf die Bilder und Meldungen, meine Fäuste voll Wut, in meinen Augen regnet es.
Fahr den Kriegstreibern in die Parade, Ewiger. Allen! Leg ihnen das Handwerk, lass sie straucheln und fallen.
Wecke den Mut und den Widerstand der Rückgrat-Starken, lass das Volk sich erheben und die Verbrecher entlarven.
Nicht entmutigen lassen sollen sich alle, die an den Frieden glauben, die unverdrossen ihre Stimme erheben, für Verführer immun sind.
Sei unter denen, die nicht schweigen, die nicht wegschauen, die nicht achselzuckend sagen: Was kann ich schon bewirken?
Höre unser Beten, unser Schreien, es töne in Deinen Ohren, unsere Angst um die Welt unserer Kinder und Kindeskinder.
Sie hast Du uns in die Hände gegeben, Deine Welt ist die unsrige. In die Hände fallen soll sie nicht den Machthungrigen ohne Gewissen.
Nie werde ich verstehen, warum Du dem allen nur zusiehst, Deine Hand nicht eingreift und die Tyrannen zerschmettert.
Mach Dich gefasst auf meine zornigen Fragen, wenn wir uns sehen werden, später, in diesem rätselhaften Danach, Deinem geheimnisumwobenen Himmel.
Dann will ich Antworten, will Erlösung und endgültigen Frieden, jetzt aber will ich nicht aufgeben, zu tun, was ich tun kann, damit wir jetzt und auch künftig den Namen verdienen, den wir so selbstverständlich als unseren eigenen tragen,
und ehrlich und glaubwürdig und unverhärtet berührbar, als menschlicher Mensch unter menschlichen Menschen leben.
Amen
(Stephan Wahl)