Donnerstag, 02. März 2023
Doppeljubiläum für immaterielles Erbe
Sternsingen, Skat, Orgelbau – Unesco ehrt lebendige Traditionen
Seit 20 Jahren fördert die Weltkulturorganisation Unesco den Erhalt von Alltagskulturen und -traditionen. Seit zehn Jahren gibt es ein deutsches Verzeichnis, in dem etwa die Passionsspiele von Oberammergau, die Morstelelegrafie und die deutsche Brotkultur aufgenommen sind. Zum Doppeljubiläum sieht die Organisation auch neue Aufgaben.
2003 verabschiedete die Weltkulturorganisation das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes; inzwischen sind der Konvention mehr als 180 Staaten beigetreten. Deutschland ist erst seit 2013 dabei. Für den 2. März haben die Länder eine Jubiläumstagung in Düsseldorf geplant – als Auftaktveranstaltung für das Festjahr.
Die Idee, neben berühmten Welterbestätten wie dem Kölner Dom, der Wartburg oder dem Kloster Corvey auch immaterielle kulturelle Traditionen zu würdigen, kommt aus dem asiatischen Raum. Sowohl in Afrika als auch in vielen Ländern Asiens spielten Bauten eine geringere Rolle als hierzulande, erklärt der Vizepräsident der Deutschen Unesco-Kommission, Christoph Wulf.
Das Ziel ist, nicht-dingliche Ausdrucksformen der Kultur zu würdigen und ihren Erhalt zu fördern. Nicht nur Althergebrachtes kann immaterielles Kulturerbe der Menschheit werden: Beispiele für moderne Kulturgüter sind das Poetenduell „Tsiattista“ aus Zypern, der Pinsi-Bootsbau in Indonesien oder das System der Wasserrichter in Peru. Bekanntere Traditionen auf der weltweiten Unesco-Liste sind Tango und Yoga, die Peking-Oper und das Kunsthandwerk des japanischen Büttenpapiers Washi. Ziel ist es laut Unesco aber auch, Abseitigeres einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Dass 2016 die hiesigen Poetry Slams aufgenommen wurden, sieht Wulf als Signal für die Zukunft. „In den urbanen Zentren verändert sich das Leben sehr schnell.“ Daher gelte es abzuwägen, welche Ausdrucksformen in die Liste aufgenommen werden sollen. „Entscheidend ist die Qualität, die für eine Gruppe mit einer bestimmten kulturellen Aktivität verbunden ist – möglicherweise auch nur für eine kleine Gruppe.“ Denn das immaterielle Kulturerbe lebt davon, dass Menschen es mit Leben erfüllen: beispielsweise die Millionen, die Freude an so unterschiedlichen Dingen wie dem Rheinischen Karneval, dem Blaudruck oder auch dem Singen in Chören haben. „Diese verschiedenen kulturellen Praktiken sprechen ganz unterschiedliche Menschen an“, sagt Wulf.
Damit verbunden seien auch Chancen für die Integration. In diesem Bereich rechnet der Experte mit Verschiebungen: Bislang würden kulturelle Praktiken von Migrantengruppen in Deutschland kaum vorgeschlagen, obwohl sie auch hier für eine wachsende Zahl von Menschen eine wichtige Rolle spielten. Das Verzeichnis müsse sich eine Offenheit für unterschiedliche kulturelle Praktiken erhalten, betont Wulf. Das hätten bereits jüngste Entscheidungen gezeigt: Während es über die Aufnahme von Orgelbau und Orgelmusik im Jahr 2018 kaum Debatten gegeben habe, sei über den Modernen Tanz lange diskutiert worden. Im vergangenen November wurde er schließlich in die deutsche Liste aufgenommen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) würdigte ihn als „wichtige Kunstform, die für ein modernes, avantgardistisches und weltoffenes Deutschland steht“.
Es gehe eben nicht nur um starre Formen und standardisierte Stile, ergänzt Wulf. Vielmehr liege der Unesco daran, kulturelle Vielfalt zu wahren. „Wäre keine gezielte Kulturförderung mehr erlaubt, würden die großen Medienkonzerne mit ihren Unterhaltungsprodukten viele in kultureller Hinsicht anspruchsvolle Produkte verdrängen“, warnt er. Angesichts von Tendenzen zur Vereinheitlichung im Zeitalter der Globalisierung müsse die Förderung kultureller Vielfalt einen gewissen Ausgleich schaffen.(kna)