Mittwoch, 24. November 2021
Aufrüttelnd und herausfordernd

Die erste Kerze am Adventskranz brennt, die Adventszeit hat begonnen und damit das Warten auf Weihnachten. (Foto: Ronald Rampsch / AdobeStock.com)
Der Advent ist nicht leise und sanft, sondern schwer und schwierig. Wie derzeit alles
Der Dichter Rainer Maria Rilke hatte keine schöne Kindheit. Als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke am 4. Dezember 1875 in Prag geboren, war er das zweitgeborene Kind von Josef und Sophie Rilke. Überschattet wurde seine Kindheit durch den Tod seiner älteren Schwester, die 1874 geboren, nur eine Woche alt wurde. Seine Mutter kam nie über diesen Verlust hinwegkam und nannte ihn im Gedenken an sie René, französisch für „der Wiedergeborene“. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wurde er daher als Mädchen erzogen. In frühen Fotografien war er mit langen Haaren und Kleidchen zu sehen. Als Erwachsener änderte er seinen Vornamen von René in Rainer.
Die Adventszeit wird gern romantisiert und mit einem Flair aus Lebkuchen, Glühwein und Weihnachtsmarkt versehen. Beschaulich, idyllisch, quasi im Kerzenschein, kommt sie daher, doch aus biblischer Perspektive ist sie eine heftige Zeit. „Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen“, heißt es im heutigen Lukasevangelium. „Nehmt euch in acht“, heißt es weiter und gewissermaßen ist Achtsamkeit und Wachsamkeit das Gebot für die ganze Adventszeit.
Im Blick auf unsere gesellschaftliche Situation dürfen wir ebenfalls mit Fug und Recht von einer heftigen und schwierigen Zeit sprechen. Preissteigerungen, die vierte Corona-Welle, der Klimawandel u.v.m. sind belastend. Die Kirche ist in einer vielleicht nie dagewesenen Krise und steht in vielen Bereichen mit dem Rücken zur Wand. Guter Rat ist auch hier teuer und händeringend wird nach Antworten und Lösungsvorschlägen gesucht. Kommissionen und Arbeitskreise werden gebildet, Gremien tagen und Beraterfirmen werden engagiert. Alles wird getan, was irgendwie hilfreich sein könnte. Was also sonst noch tun?
Ich finde es immer wieder erstaunlich, welche Wendungen das Leben manchmal nehmen kann, so auch bei Rainer Maria Rilke. Obgleich belastet und überschattet von einer äußerst problematischen Mutterbeziehung, wurde er ein weltberühmter Dichter. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Erlebens vielfachen Scheiterns in seinem Leben hat er nicht aufgegeben, sondern weitergemacht. Wahrscheinlich kennen Sie alle den Eingangs- und Schlussvers seines Gedichtes „Lichtlein“, das auf vielen Kerzen und Wandtäfelchen zu finden ist: „Wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her.“ Dahinter steckt die Erfahrung, dass auch in tiefster Dunkelheit eine Hoffnung aufleuchten kann.
Was schenkt Ihnen persönlich Hoffnung und Kraft? Wie haben Sie in der Vergangenheit schwere Zeiten durchgestanden? Welche Bibelstelle, welche religiöse Erfahrung hat sie positiv geprägt und verändert? Vielleicht ist es an der Zeit, einander – und in der Kirche – von dem zu erzählen, was uns getragen hat und immer noch trägt. Ohne die Augen vor den Realitäten zu verschließen, ist es auch eine Realität, dass es dieses Gute, Kraftvolle, Lebendige, diesen Gott gibt.
René Maria Rilke hätte man eine schöne Kindheit gewünscht und mit ihm vielen anderen Kindern von heute, bei denen sich das Leben nicht von seiner Sonnenseite gezeigt hat. Ihnen allen gilt unsere Aufmerksamkeit und unser Einsatz, damit sie eine bessere Zukunft haben dürfen. Seien wir achtsam und wachsam im Advent für uns, für andere, für unsere Kirche und unsere Welt. (Thomas Stephan)