Donnerstag, 16. Dezember 2021
Leben ist Begegnung

Der Besuch bei Elisabet. Meister der Schöffen von Rouen: Schmuckseite (Ausschnitt) eines Stundenbuches um 1470, Rouen / Frankreich. (Foto: Cleveland Museum of Art / Wikimedia Commons / CC0 1.0)
Darin auch finden wir zu Gott
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Martin Buber). Um eine ebenso alltägliche wie außergewöhnliche Begegnung geht es im Evangelium des Vierten Adventssonntages. Zunächst ist da eine Situation, die viele Frauen kennen: Sie sind zum ersten Mal schwanger – verunsichert, erfreut, besorgt… Was gäbe es Sinnvolleres und Hilfreicheres, als eine Frau aufzusuchen, die ebenfalls schwanger ist, vielleicht schon ein paar Montage länger, etwas mehr Erfahrung hat, und sich auszutauschen?
Maria wandert also eilig ins Bergland zu ihrer Verwandten Elisabet, die schon vor sechs Monaten, in hohem Alter, einen Sohn empfangen hat. Bei ihr kann sie auf Verständnis für ihre schwierige Situation hoffen, denn auch für Elisabet war eine Schwangerschaft eigentlich nicht möglich. Außerdem wird Elisabet Hilfe benötigen: In ihrem Alter wird es ihr zunehmend schwer fallen, die alltäglichen Arbeiten zu verrichten.
Maria bleibt fast drei Monate bei Elisabet. Zwei ganz normale schwangere Frauen, die sich gegenseitig helfen und unterstützen, sich Mut machen, sich austauschen und natürlich große Freude miteinander teilen: Freude über ihre beiden Kinder, die etwas besonderes sind, die miteinander aufwachsen und Freunde sein werden. Sie spüren ihre Bewegungen im Bauch, sie spüren das neue Leben, das da kommen will; sie spüren das Neue, das mit ihren Söhnen beginnen wird!
Etwas Großes bahnt sich an, mitten in der alltäglichen Begegnung zweier Frauen. Eine Begegnung, die nur deshalb für die beiden Frauen so voller Freude ist, weil sie von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit füreinander geprägt ist: Das Große zu entdecken, das sich hinter dem Unscheinbaren verbirgt, macht das Besondere einer Begegnung wie dieser aus. Begegnungen, die von Offenheit geprägt sind, eröffnen neue Perspektiven, sie bereichern das Leben und beantworten Fragen.
Besonders schön wird das „Geerdete“ dieser Begegnung in der neuen Einheitsübersetzung deutlich. Während es in der älteren in Vers 42 heißt „Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen“, bekommt der Text nun mit der Formulierung „Gesegnet bist du unter den Frauen...“ eine andere Nuance: „Maria ist eine Frau und eingebettet in die lange Geschichte von Tochter, Mutter, Großmutter oder Tante...“ (Katrin Brockmüller). Martin Luther übersetzte übrigens ähnlich.
Was genau ist nun das „Große“ dieser Begegnung? Es ist, wie in der Situation der beiden Frauen, sowohl etwas Alltägliches als auch etwas Besonderes.
Das Alltägliche: Aufmerksamkeit und Achtsamkeit machen unser Leben reicher und lebendiger; Dankbarkeit; Sensibilität für das Gute in der Welt; Solidarität und Freundschaft; Hilfsbereitschaft; die Dinge mit Freude und Liebe tun; mit offenen Augen durchs Leben gehen; die tiefe Wirkung einer zunächst unscheinbaren Begegnung erkennen; die Geheimnisse des Alltags entdecken…
Und das Besondere: Gott wird Mensch; Gott will durch die Kinder dieser beider Frauen der Welt Heil und Leben schenken; Gott will die Kleinen groß, die Hungrigen satt, die Armen reich und die Unterdrückten frei machen; Gott ist zu finden in allen Dingen, auch im Kleinen...
Der Evangelist Lukas berichtet immer wieder von Begegnungen der Menschen mit Jesus von Nazaret, die das Leben dieser Menschen tiefgreifend verändern. Voraussetzung dafür war immer die Offenheit und das Ansprechbar-Sein dieser Menschen, mitten in ihrem jeweiligen Alltag: Die Fischer am See Genezareth genau so wie der Zöllner Zachäus. Auch unser Leben mit Gott wird genährt durch Begegnungen.
„In allem will Gott Begegnung feiern“. Das schrieb nicht jemand in einem Überschwang idyllischer Romantik, sondern mit gefesselten Händen ein zum Tod verurteilter Gefangener, der Jesuit Alfred Delp. Er formuliert damit ein zentrales Anliegen ignatianischer Spiritualität, die feste Überzeugung: Gott ist überall da. Sprichwörtlich überall und in jedem Moment, in Freud und Leid, im Leben und Sterben, in unseren Beziehungen, in der ganzen Schöpfung.
Vielleicht können wir trotz der Hektik des Alltags genau dort, in der Dichte und Eile der Zeit, Gott begegnen? Vielleicht begegnen wir ihm, wenn wir den Menschen um uns herum eine Minute mehr Zeit und Aufmerksamkeit schenken? Wahrscheinlich bietet unser Alltag dafür viel mehr Gelegenheiten, als wir für möglich halten.
Auch von Maria haben wir erfahren, dass sie in eine Stadt im Bergland von Judäa eilte, um sich dann drei Monate Zeit für die intensive Begegnung mit ihrer Verwandten zu nehmen und darin Gott zu begegnen. (Simone Reuther)