Montag, 03. Januar 2022
Nachfrage nach Therapieplätzen ist sehr gestiegen
Corona bringt Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ludwigshafen an ihre Grenzen
Ludwigshafen. Psychosomatische Beschwerden und Essstörungen: Die Corona-Pandemie hat massive Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am St. Annastiftskrankenhaus in Ludwigshafen ist so voll wie lange nicht mehr.
„Die Nachfrage nach Therapieplätzen ist seit Beginn der Pandemie um rund zwanzig Prozent gestiegen“, berichtet Dr. Rebekka Schwarz, die Kommissarische Ärztliche Leiterin und leitende Oberärztin der Klinik. Wer jetzt spontan einen Termin brauche, habe keine Chance und müsse mit langen Wartezeiten rechnen, bis in den Februar oder März hinein. Nur in wirklichen Notfällen, etwa bei akuten Suizidgedanken, können Patienten auch kurzfristig behandelt werden.
Was Schwarz in ihrer täglichen Arbeit beobachtet, bestätigt auch eine Studie der Uniklinik Hamburg, in der mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche nach dem ersten und zweiten Lockdown befragt wurden: „Was die Kolleginnen und Kollegen hier herausgefunden haben, zeigt, welche gravierenden Auswirkungen die Pandemie auf das Seelenleben von Kindern und Jugendlichen hat“, so Schwarz. Demnach ist die Lebensqualität zunehmend gesunken, psychosomatische Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen nahmen zu, „außerdem kam es zu einer deutlichen Zunahme von ungesunder Ernährung und viele Kinder haben gar keinen Sport mehr gemacht.“
Auch der Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen hat Schwarz zufolge nachweisbar „unkontrolliert“ zugenommen. „Sicher ist das bei vielen Familien auch aus der Not heraus passiert. Vieles, was gerade Kinder konsumieren, ist aber leider gar nicht altersentsprechend.“
Insgesamt gelte es, den Fokus besonders auf das „gefährdete“ Klientel zu legen, also Patienten mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sowie Familien mit Migrationshintergrund und beengten Wohnverhältnissen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Familien, die auch vor der Pandemie schon viele Ressourcen hatten, das Ganze in der Regel besser managen“, berichtet Schwarz. Damit Kinder und Jugendliche nicht noch weiter ins Abseits geraten, müssten in erster Linie die erzieherischen Kompetenzen gestärkt werden. Allerdings falle es vielen Eltern schwer, Probleme ihrer Kinder oder innerhalb der Familie alleine zu stemmen und ohne Hilfe von außen wieder zurück ins Leben zu finden. „Hier gilt es, die bestehenden Unterstützungsangebote auch in Anspruch zu nehmen, etwa durch die Familienberatungsstelle oder die Jugendhilfe.“
Was Schwarz pandemiebedingt ebenfalls beobachtet, ist eine Verschiebung der alterstypischen Entwicklungsstufen, gerade bei Jugendlichen. „Vor allem bei den 13- bis 17-Jährigen finden die normalen Pubertätsschritte nicht statt.“ Hauptgrund dafür ist der Ärztin zufolge das Zuhause bleiben während des Lockdowns, wodurch die typische Abnabelung von der Familie, Treffen mit Freunden und das Ausprobieren neuer Dinge ausgeblieben seien. Bei diesen Jugendlichen sei auch kein Nachholeffekt der Schritte erkennbar: „Sie sind auch nach dem Ende des Lockdowns weiterhin zuhause, kommunizieren hauptsächlich über soziale Medien und bewegen sich wenig in der Realität.“ Welche konkreten Langzeitfolgen diese Entwicklung nach sich ziehen könnte, wagt Schwarz derzeit noch nicht vorherzusagen.
Was sie allerdings vor allem bei ihren weiblichen Patientinnen in diesem Alter vermehrt beobachtet, ist eine Zunahme des Störungsbildes Magersucht, das über den gesamten Verlauf der Pandemie „sehr vorherrschend“ gewesen sei. Als mögliche Gründe nennt Schwarz auch hier den Lockdown und insbesondere die Schließung der Schulen. Viele junge Mädchen hätten sich mit den Worten „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit vielen Kilos mehr aus dem Lockdown kommen“ ins Homeschooling verabschiedet. Zuhause hätten die vielfach sehr perfektionistischen Jugendlichen dann einen Ersatz für ihre gute Noten und schulischen Leistungen gesucht und sich Bestätigung durch eine immer stärkere Gewichtsabnahme geholt. „Hinzu kommt, dass den Schülerinnen die gewohnte Tagesstruktur plötzlich weggebrochen ist und sie sich so einen neuen Tagesablauf schaffen mussten, der dann häufig aus einem festen Sportprogramm und Kalorienplänen bestand. Dabei haben sich viele an Youtubern und Influencern in den sozialen Medien orientiert.“ Durch den täglichen Gang auf die Waage und die damit verbundenen Erfolgserlebnisse seien viele Jugendliche in eine klassische Magersucht reingerutscht, berichtet Schwarz. Dieser besorgniserregende Trend hat sich der Ärztin zufolge im Laufe der Pandemie über die letzten eineinhalb Jahre hinweg immer weiter fortgesetzt. „Und wir gehen davon aus, dass der Bedarf auch in Zukunft weiter steigen wird.“
Die Auslastung der Kinder- und Jugendpsychiatrien werde eher weiter zu- als abnehmen, ist sich Dr. Schwarz sicher, auch wenn ihre Klinik bereits jetzt am Limit ist. „Auch für mich ist es schwierig, dann damit zurechtkommen zu müssen, dass wir im konkreten Fall meist keine ganz akute Hilfe leisten können, sondern es wegen der großen Nachfrage mitunter leider zu langen Wartezeiten kommt.“
Text: Franka Wolf/Foto: Adobe Stock
Diese Meldung und weitere Nachrichten des Bistums wurde veröffentlicht auf der Internetseite www.bistum-speyer.de