Montag, 19. April 2021
Freude am Erwachsenwerden
Fortlaufend zu den Themen der Plakatkampagne #beziehungsweise gibt es an dieser Stelle Impulse zum Weiterdenken. Das fünfte Plakat Bar-Mizwa beziehungsweise Firmung/Konfirmation nimmt die Jugend in den Blick. Die Gedanken hierzu stammen von Ingo Faus.
Freude am Ewachsenwerden?
Freude am Erwachsenwerden – damit assoziiere ich Treffen mit Freunden. Sich voller Aufregung und Neugier auf Neues einlassen. Abschied vom Zuhause nehmen und die Befürchtung haben, dass man Heimweh verspüren könnte. Auf den eigenen Füßen stehen. Erste Liebe. Selbständigkeit gewinnen. Die Schule abschließen. Mit Gleichaltrigen zusammen- und bei den Eltern ausziehen. Noch mehr Treffen mit Freunden. Eigene Entscheidungen. Sich auf neue Leute einlassen und seinen Platz in der Gruppe finden. Engagement zeigen. Flügge werden. Die Welt erobern. Party machen. Gutes tun. Dinge ausprobieren. Neue Räume erschließen. Über die Welt reflektieren und sie immer besser verstehen. Verantwortung übernehmen. Feiern. Anerkennung bekommen. Zweite Liebe. Mit Freundinnen losziehen. Politisches Handeln entdecken. An Grenzen stoßen und diese überwinden. Lust an Bewegung. Die Nacht zum Tag machen. Selbstwirksamkeit erfahren. Selbstbewusstsein steigern. Nervenkitzel suchen. Kompetenzen entwickeln. Miteinander abhängen. Ausbildung oder Studium beginnen. In eine fremde Stadt ziehen. Persönlichkeit bilden. Chillen. Sich etwas trauen. Ausgelassen sein. Vereine und Jugendgruppen. Neue Erfahrungen machen. Miteinander lachen. Sich selbst versorgen. Viel erleben. Selbstsicherheit gewinnen. Ewige Liebe. Spaß haben. Unabhängigkeit genießen. Noch mehr erleben. Berufseinstieg hinbekommen. Gemeinschaft erfahren. Nervenkitzel finden. Sich Herausforderungen stellen. Kurz: Viele Erfahrungsräume für die persönliche Entwicklung haben.
Auch die christlichen und jüdischen Gemeinden bieten einen Erfahrungsraum und genau hierfür wurde der Slogan „Freude am Erwachsenwerden“ formuliert: In der Plakatkampagne bezieht er sich auf Bar-Mizwa / Bat-Mizwa beziehungsweise Konfirmation oder Firmung – festlich begangene Rituale, mit denen Jugendliche in ihren Gemeinden „erwachsen“ werden, ihren Glauben bekennen, volle Rechte und Pflichten als Gemeindemitglied erhalten und für ihren Glauben selbst Verantwortung übernehmen. Mit Blick auf diese Feste, die im Alter von etwa 13-15 Jahren begangen werden, wurde ein schöner Slogan gefunden. Hier sind die Anlässe aus jüdischer und christlicher Perspektive näher erläutert.
Der Slogan klingt gut. Freude am Erwachsenwerden. Das klingt unbeschwert. Das klingt fröhlich. Das klingt zuversichtlich. Das aktuelle Plakat nimmt die Jugend in den Blick und seine durch und durch positive Überschrift beinhaltet mehrere zeitliche Ebenen: Freude im Hier und Jetzt. Freude an Entwicklung und Wachstum in näherer Zukunft. Und letztlich auch ein Versprechen auf eine gute spätere Zukunft, für die es sich erwachsen zu werden lohnt – ansonsten würde Freude am Erwachsenenwerden eher keinen Sinn ergeben.
Nun sind die genannten, festlichen Anlässe für Jugendliche aber nur ein kleiner Ausschnitt des Erwachsenwerdens. Eine Momentaufnahme. Junge Menschen sind ja nicht nur Gemeindemitglieder. Ihr Aufwachsen und Erwachsenwerden besitzt viele weitere Facetten, geschieht an vielen weiteren Orten und erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren. Der so sympathische Slogan erscheint mir, wenn man die Perspektive in dieser Weise nur ein klein wenig weitet, hinterfragbar.
Entspricht der Slogan der Selbstwahrnehmung junger Menschen? Haben Jugendliche den Slogan vielleicht selbst formuliert? Spiegelt der Slogan ihr durch und durch unbeschwertes, fröhliches und zuversichtliches Lebensgefühl wider? Oder ist das die Perspektive der Erwachsenen? Möglicherweise Wunschdenken der Erwachsenen? Vielleicht gar ein Ausdruck von Ignoranz der älteren Generationen? Handelt es sich um eine Unterstellung? Um eine Fremdzuschreibung?
Wenn ich mir diese Fragen stelle, komme ich ins Grübeln. Höchstwahrscheinlich waren Jugendliche an der Formulierung nicht beteiligt. Sie hatten keine Möglichkeit in eigener Sache zu sprechen – ein Problem, das sich in einer Gesellschaft, in der „Jugend“ kaum systematische Mitsprachemöglichkeiten hat, an vielen Stellen zeigt. Es fehlt an Interessenvertretung. Wenn man immer nur darauf hoffen muss, dass die eigene Altersgruppe von älteren Generationen angemessen mitgedacht wird, läuft man Gefahr, dass die eigenen Perspektiven und Interessen keine oder nur geringe Beachtung finden.
Spürbar wird dies aktuell in der Corona-Krise. In dieser Krise sind junge Menschen durchaus im Blick der Politik: Über die richtige Strategie zu öffnender oder zu schließender Schulen wurde und wird viel debattiert. Und schulische Bildung ist auch zweifellos wichtig. Doch die Ausschließlichkeit dieser Debatte macht natürlich deutlich, wie beschränkt Bedürfnisse junger Menschen bedacht und berücksichtigt werden.
Der deutlich größere Teil des Erwachsenwerdens findet nicht nur außerhalb der jüdischen und christlichen Gemeinden, sondern auch außerhalb der Schule statt. Diese Perspektive spielt in der Pandemie kaum eine Rolle. Die Erfahrungsräume, in denen sich Jugendliche und Heranwachsende zunehmend selbständig erproben können, haben geschlossen. Sind verboten. Dürfen nur digital aus dem Kinderzimmer erlebt werden. Sie fehlen einfach. Erwachsenwerden braucht persönliche Begegnung. Erwachsenwerden braucht Erfahrungsräume. Der Lockdown ruft bei keiner Altersgruppe Begeisterung hervor. Für junge Menschen aber hat er besonders kritische Folgen: Ohne Begegnung und Erfahrungsräume fehlen seit einem Jahr für sehr viele junge Menschen Entwicklungsmöglichkeiten – mit schlimmstenfalls lebenslangen Folgen.
Nicht alle junge Menschen sind gleichermaßen betroffen. Die sozialen Lagen sind zu unterschiedlich. Schon ohne Pandemie ist mehr als jeder fünfte junge Mensch armutsgefährdet. Der „Monitor Jugendarmut in Deutschland“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit nennt Zahlen: 3,2 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gelten im Jahr 2018 in Deutschland als armutsgefährdet. Armut schränkt Entwicklungsmöglichkeiten ein. Armut behindert gesellschaftliche Teilhabe. Armut grenzt aus. Wer in Armut aufwächst, hat weniger Erfahrungsräume. Die zunächst „nur“ am Haushaltseinkommen bemessene Armutsgefährdung fällt häufig mit einer engen Wohnsituation, mit begrenzten Bildungsressourcen, mit schlechterer Gesundheit und weiteren Benachteiligungen zusammen. Chancengerechtigkeit ist nicht gegeben. Und wer im eigenen Umfeld keine jungen Menschen kennt, die armutsgefährdet aufwachsen, muss sich klar machen, dass es an anderer Stelle dann umso mehr junge Menschen gibt, die gesellschaftlich abgehängt sind. Chronisch abgehängt sind, denn in vielen Fällen handelt es sich nicht um ein vorübergehendes Problem.
Die genannten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2018. Corona war noch kein Thema. Dies hat sich geändert. Homeschooling ohne geeignete häusliche Computerausstattung? Funktioniert schlecht. Ohnehin schon benachteiligte junge Menschen werden durch die Pandemie noch einmal härter getroffen. Chancengleichheit ist noch weniger gegeben. Die betroffenen jungen Menschen wissen um ihre Situation. Es mangelt ihnen an Ressourcen für ein gutes Erwachsenwerden und dies bedeutet weniger Freude am Erwachsenwerden.
Bleibt vielleicht die Zuversicht auf eine gute Zukunft. Hier erinnere ich mich an 2019. Vor der Pandemie. Weltweit gingen Millionen junge Menschen auf die Straße und demonstrierten für einen Klimaschutz, der diesen Namen verdient. Die Wissenschaft ist sich in den wesentlichen Fragen einig und junge Menschen haben verstanden: Hier geht es um unsere Zukunft.
„Was da jetzt aktuell politisch passiert, ist am Ende der Ausverkauf meiner Generation.“ – Diesen Satz zur Klimapolitik hörte ich kürzlich in einer Doku über junge Erwachsene im Freiwilligen Ökologischen Jahr. Es klingt nicht zuversichtlich. Jungen Menschen gelang 2019, den Klimaschutz auf der politischen Tagesordnung nach oben zu schieben. Nach Jahrzehnten der klimapolitischen Trödelei konnte man hoffen – und dann kam die Pandemie und bremste das Engagement aus. Die Aussichten sind düster. Verglichen mit der Klimakrise ist Corona „Kindergarten“.
Mit diesen Gedanken schlage ich mich herum, wenn ich an Freude am Erwachsenwerden denke. Im vergangenen Sommer – zwischen den Lockdowns – hatten wir in der Familie eine Konfirmation. Der Gottesdienst fand bei wunderbarem Wetter im Freien statt und war toll gestaltet. Es war ein echter Festtag. Doch deshalb Freude am Erwachsenwerden zu unterstellen, fällt mir schwer.
Ingo Faus
Leiter der Abt. Erwachsenenbildung und Hochschulen im Bischöflichen Ordinariat
Zum Weiterlesen:
Junge Menschen und Corona: Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie
Junge Menschen und Armut: Factsheet Kinderarmut in Deutschland
Aussichten des Klimawandels:
- Warum zwei Grad Erderwärmung zu viel sind
- Globale Erwärmung steuert auf mehr als drei Grad zu
- So schnell tickt die CO2-Uhr
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken möchte jungen Menschen mehr politische Mitbestimmungsmöglichkeiten bieten und fordert deshalb die Absenkung des Wahlalters.
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