Pilgern
In der Ferne wartet die Heimat
Pilgern ist mehr als Aufbruch und Ankommen. Aber Vorsicht: nicht der Weg ist das Ziel, sondern die Begegnung mit Gott, den Menschen und am Ende auch mit sich selbst.
Der Wind weht den Glockenklang der vertrauten Ave-Melodie an mein Ohr und durchbricht für einen Moment das Rauschen des Gave-Flusses in meinem Rücken. Ich stehe vor einem der vielen Kerzenständer unweit der Grotte von Lourdes und schaue in das tanzende Flammenmeer. Mein Blick verliert sich in den unzähligen Feuerzungen. Die Gedanken gehen spazieren und auf einmal durchströmt mich ein Gefühl meiner Kindheit. Ich stehe wieder als kleiner Junge in der rußgeschwärzten Marienkapelle unserer Pfarrkirche, schaue verzückt in die kleinen Opferlichte und die Muttergottes sieht mich mit großen Augen aus ihrem Wandmosaik an. So oder ähnlich geschieht es immer wieder, wenn ich als Pilger unterwegs bin. Es gibt diese Momente, in denen ich mir selbst ganz nahe komme, wo Kindheit und Heimat unvermittelt aufleuchten und ein tiefes Gefühl der Geborgenheit und Sehnsucht wachrufen. Führt mich die Pilgerreise etwa zurück an vergangene Orte und Zeiten? Wenn ja, wie ist das möglich?
Seit meiner Kindheit gehören Wallfahrten zum Ausdruck meiner Religiosität, ja, um diesen alten Begriff einmal zu verwenden, zu meiner Frömmigkeit. Meine ersten Wallfahrten führten zur schmerzhaften Muttergottes nach Telgte bei Münster. Diese steife Holzfigur aus dem 14. Jahrhundert ist in den Augen eines Kindes sicher nicht besonders schön anzusehen. Wenn ich ehrlich bin, so haben mich damals die ungewöhnlichen Votivgaben und die Vielzahl der Kerzen mehr interessiert als das befremdliche Bild, zu dem ich damals nur schwer einen Zugang finden konnte. Heute spricht das Bild auf eine ganz andere Weise zu mir. Als Erwachsener habe ich den Schmerz und die Zerbrechlichkeit der uns umgebenden Welt kennen gelernt. Trost und Zuversicht gehen von dem Gnadenbild aus. Noch faszinierender ist jedoch das Wissen darum, wie viele Generationen von betenden Menschen an diesem Ort um Hilfe und Beistand gefleht oder der Muttergottes Danke gesagt haben. Mich als Glied einer geistlichen Menschenkette zu fühlen, die seit mehreren Jahrhunderten besteht, erfüllt mich mit großer Ehrfurcht. Zugleich empfinde ich die Verpflichtung, dieses Erbe weiter zu reichen an die nächste Generation.
Diese Weitergabe religiöser Erfahrung und Beheimatung heißt Tradition. Sie ist für einen Wallfahrtsort von ganz erheblicher Bedeutung. In ihr lebt der Glaube an Gottes heilendes Eingreifen in diese Welt weiter und wird auch für mich als Beter wirkmächtig selbst dann, wenn ich vielleicht keine "Wunder" erwarte. Das Gnadenbild, das Apostel- oder Heiligengrab ist nur ein äußeres Zeichen, dessen "Echtheit" nicht entscheidend ist. Das Wesentliche ist immer unser - wenn auch nur stümperhafte - Glaube und unsere Offenheit für Gott. Pilgern ist ein Dreiklang, dessen Grundton der Glaube ist. Er macht aus einem äußeren Vorgang einen inneren Prozess. Wobei nicht auszuschließen ist, dass, um im Bilde zu bleiben, der Ton anfänglich noch sehr leise ist. Aber ohne ihn, ohne die Bereitschaft zum Hören und ohne die Dimension des Himmels wäre eine Wallfahrt nichts weiter als eine Wanderung oder eine pseudo-spirituelle Besichtigungstour. Die weiteren Töne des Pilgerdreiklangs sind die Gemeinschaft, in der der Pilger unterwegs ist, und das eigene Ich, zu dem ich neu einen inneren Kontakt aufnehme, das ich suche, erforsche und bestärke. So erfährt der Einzelpilger einerseits eine Einbindung in eine Gemeinschaft, reiht sich ein in die Schar der Suchenden, Bittenden und Glaubenden. Andererseits eröffnet die Wallfahrt als Reise zu sich selbst eine besondere Chance zur Selbsterkenntnis. (Werner Busch, Leiter des Ferienwerks im Bistum Speyer)